»Plan 75« von Chie Hayakawa

Die japanische Gesellschaft leidet an Überalterung. Weil die Japaner unter sich bleiben wollen, lehnen sie eine massive Einwanderung ab und dulden allenfalls Gastarbeiterinnen als Pflegekräfte. Abgeschottet haben sie sich über Jahrhunderte, die weltweit stärkste prozentuale Zunahme an alten Menschen ist allerdings ein modernes Problem in dem Land.

Eine dystopische, also erschreckende zukünftige Lösung hat nun die junge Tokioterin Chie Hayakawa mit ihrem Spielfilmdebüt »Plan 75« vorgelegt, für das sie im letzten Jahr in Cannes eine Spezielle Erwähnung mit einer Goldenen Kamera erhielt. Chie knüpft an Shohei Imamuras Film »Die Ballade von Narayama« an, in dem sich die Bewohner eines Dorfes nach ihrem siebzigsten Geburtstag auf einen Berg zurückziehen müssen, um dort zu sterben. Wer sich dem widersetzt, verursacht seiner Familie Unglück.
In Chies Film beträgt die Altersgrenze 75 Jahre, und das gerade verabschiedete Gesetz sieht eine freiwillige Teilnahme an dem staatlichen Euthanasieprogramm Plan 75 vor. Für einen letzten Wunsch zahlt die Regierung jedem Todeskandidaten 100.000 Yen (ca. 1200 Euro). Das ist die Antwort auf eine gesellschaftliche Entwicklung. Denn einige junge Japaner haben zur »Selbsthilfe« gegriffen und alte Menschen eigenhändig ins Jenseits befördert. Schließlich belegen die Senioren Wohnungen, die dringend benötigt werden, und verursachen immense Kosten im Sozial- und Gesundheitssystem.
Da braucht es nur ein wenig staatliche »Nachhilfe«, dass sich die Greise selbst dazu entschließen, aus dem Leben zu scheiden. Es sei auch eine lange Tradition, sich für sein Land aufzuopfern, sagt einer von ihnen. Zudem werde das Leben immer beschwerlicher. Eine betagte Frau klagt über die Einsamkeit, auch wenn man Kinder habe, bleibe man allein.
Die 78-jährige Michi (Chieko Baisho) arbeitet wie ihre Altersgenossinnen als Reinigungskraft im Hotel. Sie verliert ihren Job und ihre Unterkunft, weil das alte Mietshaus, in dem sie wohnt, abgerissen werden soll. Nach erfolglosen Bemühungen um eine neue Arbeit und eine neue Wohnung bewirbt sie sich bei Plan 75.
In dem Haus, das für die Durchführung des Programms eingerichtet worden ist, geht es zu wie in einer gewöhnlichen Behörde. Man bekommt eine Nummer, wartet in einem großen Raum, wo allerdings ein aufdringlicher Werbefilm für Plan 75 über einen großen Bildschirm läuft, und wird schließlich zur Aufnahme abgeholt, notfalls mit Rollstuhl.
Die Angestellten sollen Distanz zu den Todeskandidaten halten und private Gespräche mit ihnen vermeiden. Der Sachbearbeiter Hiromu (Hayato Isomura) nimmt Michis Daten auf. Er sieht seinen Job als ganz normal an, wird aber nachdenklich, als er bemerkt, dass sein Onkel Yukio (Taka Takao) sich für das Programm anmeldet.
Die junge Yoko (Kawai Yumi) versucht sich als verständnisvolle Begleiterin, und die Philippinin Maria (Stefanie Arianne) hat die Aufgabe, die Leichen für das Krematorium vorzubereiten. Sie sorgt sich um ihre schwer herzkranke Tochter, was ihren Job nicht gerade einfacher macht.
Es sind diese Punkte im Leben der jungen Menschen, die den kritischen Untergrund zu der blank polierten Oberfläche des geschäftigen Treibens bei Plan 75 bilden. Dazu kommen die Kamera-Arbeit von dem mehrfach ausgezeichneten Hideho Urata, der sich immer wieder um Distanz zum Geschehen bemüht, und die drohende Musik von Rémi Boubal. So ist »Plan 75« nicht nur ein vielversprechendes Regiedebüt, sondern auch eine gruselige Zukunftsvision mit durchaus aktuellen Bezügen.

Tom Zwicker / Foto: © fugu films
PLAN 75
von Chie Hayakawa, J/F/RP/Q 2022, 112 Min.,mit Chieko Baisho, Hayato Isomura, Stefanie Arianne, Taka Takao, Kawai Yumi, Okata Hisako
Drama / Start: 12.10.2023

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