Auch dieses Buch steht für sich, obwohl es den Abschluss einer Trilogie bildet. Das Ende des Zweiten Weltkriegs und die Zeit unmittelbar danach. »Im Frühling sterben« (2015), bereits in 25 Sprachen übersetzt, und »Der Gott jenes Sommers« (2018) hießen die beiden ersten Bände. Jetzt ist als Abschluss der dritte Band erschienen: »Die Nacht unterm Schnee«.
Rothmann, sicher der bedeutendste Erzähler unserer gegenwärtigen Literatur, hat hier ein epochales Werk vorgelegt.
Fast alle Bücher von Ralf Rothmann, und da sind seit dem Ende der achtziger Jahre einige zusammengekommen, haben einen (auto)biographischen Hintergrund. Er selbst hat Maurer gelernt und einige Jahre in diesem Beruf gearbeitet. Dann auch als Koch und LKW-Fahrer. Er kennt, worüber er schreibt. Und er schreibt faszinierend. Er kennt die Welt, die er beschreibt, das Elend, das Leiden, aber auch das bisschen Glück, das darin aufscheint. In seinen letzten drei Romanen erzählt er allerdings von seinen Eltern, also der Vorgeschichte. Er erzählt von den letzten Wochen des Krieges und der unmittelbaren Nachkriegszeit.
In »Die Nacht unterm Schnee« steht Elisabeth, Walter Urbans spätere Frau, im Zentrum. Sie ist, wie Ralf Rothmann sagt, ganz stark seiner Mutter nachempfunden. Erzählt wird der Roman von Luisa, dem Mädchen, das in dem Buch »Im Frühling sterben« als 12-jährige Walter, den Melker, angehimmelt hat. Luisa, Tochter eines Kneipenbesitzers, sorgt dafür, dass die 17-jährige Elisabeth als Büfettkraft bei ihnen arbeiten kann. Ihr gefällt Elisabeths »gutgelaunte Frechheit, ihre Schlagfertigkeit«. Elisabeth spricht gerne von ihrem »Verlobten« Walter und feiert doch ebenso gerne und ausgiebig in der Woche mit anderen Männern, in der er als Melker weit weg auf einem Gut arbeitet. Sie ist lebenshungrig, sie raucht exzessiv und trinkt manchmal bis zum Vollrausch. Luisa wächst gut bürgerlich auf, macht ihr Abitur, wird Bibliothekarin, hat einen Mann und ein Kind und bleibt doch ein Leben lang in Walter verliebt, der »einfach erschütternd schön« war mit seinen Muskeln, »starkem dunkelblondem Haar, stets penibel zurückgekämmt und grünen Augen«. In Rückblenden erfahren wir von Elisabeths Flucht aus Danzig, dem Hunger, den brutalen Vergewaltigungen, die sie gerade so überlebt. Die Gewalt, die ihr angetan wird ist schon lesend kaum zu ertragen. Elisabeth ist kaum mehr fähig, Gefühle zu empfinden. Sie behandelt ihre Kinder lieblos, schlägt sie oft grün und blau. Und hofft wohl auch durch das exzessive Feiern, die Vergangenheit zu verdrängen. Als Luisa wissen will, wie es ihr so erging auf der Flucht, antwortet sie nur: »In Pommern hat mich mal einer geschnappt«. Elisabeth heiratet Walter, zieht zu ihm als Melkerin auf das Gut, ihr Sohn Wölfchen wird geboren, drei Jahre später noch eine Tochter, von der Walter bezweifelt, dass es seine Tochter ist. Elisabeth hasst dieses harte, anstrengende Leben dort und sehnt sich nach der Stadt. »Niemand sagt dir mal was Nettes, es gibt kein Vergnügen, nur Sorgen und in all dem Dreck hast du das Gefühl, langsam selbst zu Dreck zu werden.« Ab und an kommt Luisa zu Besuch, hilft auch gerne, doch ihr ist klar, »bei Licht betrachtet war schließlich alles, diese scheinbare Idylle in Ruhe und gesunder Luft nur Unfreiheit, Gewalt, Schmerz und Dreck … Alles war mit einem Leid erkauft«.
Das, was Ralf Rothmann da beschreibt, das Grauen, die Gewalt, das unerträgliche Leiden, die Angst, Details, die einem die Sprache verschlagen, davon berichtet er mit einer teilweise kaum erträglichen Genauigkeit. Wenn man »seine« Geschichten gelesen hat, versteht man das Schweigen, in dem solche Leidensgeschichten üblicherweise vergraben sind.
Nach einiger Zeit ziehen Elisabeth und Walter ins Ruhrgebiet, wo er eine Stelle im Bergbau bekommt. Elisabeth ist halbwegs glücklich. »Endlich leben wir in einer Stadt … Geregelte Arbeitszeit, an Wochenenden meist frei, garantierter Urlaub und sichere Bezahlung.« Doch Glück sieht anders aus. Als Luisa mal wieder zu Besuch kommt, ist sie erschrocken über Walters Stimme, die früher so »kraftvoll und samtig« war, jetzt ist sie »zerkratzt von Steinstaub oder Ruß und eine neue Härte war darin, etwas Metallisches, wie sie wohl entsteht, wenn man in tausend Metern lichtloser Tiefe gegen Presslufthämmer und Maschinen anbrüllt«. Elisabeth bleibt hart und unempfindlich für das Leid, das sie ihrem Mann und den Kindern zufügt. Luisa glaubt, »dass ihr das Durchlittene der Vergangenheit jedes Gefühl dafür genommen hat, welches Leid sie anderen zufügt«. Fast bis zum Ende. Bis man merkt, dass sich da zwei Menschen doch noch gefunden haben, die über Jahrzehnte nur gefühllos neben einander her lebten. In ihrer Tragödie enthüllt sich eine anrührende Liebesgeschichte.
Sigrid Lüdke-Haertel / Foto: © Heike Steinweg/Suhrkamp Verlag
Ralf Rothmann: Die Nacht unterm Schnee. Roman.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2022, 304 S., 24 €