Es fällt einem wie Schuppen von den Augen: Wie anders, als durch Zeichnen hätten sich die Menschen in vorfotografischer Zeit denn ein Bild, respektive Bilder machen sollen von ihren Eindrücken und Begegnungen! Wie sonst diese vermitteln? In seiner ersten Sonderausstellung stellt das erst vor Jahresfrist eröffnete Deutsche Romantik-Museum eine Kunst und Fertigkeit zur Schau, die uns heute buchstäblich abhandenkommt: das Handzeichnen als Kulturtechnik, als Medium der Kommunikation, als in das Bild verlängerte Handschrift.
»Zeichnen im Zeitalter Goethes« lautet der Titel der Schau. Das Leben des Dichters bildet den Leitfaden des neunteiligen Parcours im erstmals genutzten Ernst Max von Grunelius-Saal des Hauses. 130 Bilder in unterschiedlichsten Techniken – vom Bleistift über die Feder bis zum Aquarell – gefertigt sind zu sehen. Alle stammen aus den Beständen des Freien Deutschen Hochstifts. Über acht Themenstationen hinweg werden Werke von 60 Künstlern, Malern, Literaten vorgestellt, die neunte lädt die Gäste zum Selberzeichnen ein, wofür, dies am Rande, die Firma Faber-Castell 18,5 Kilo (!) Bleistifte aller Härtegrade gestiftet hat. Es ist, auch dies am Rande, irgendwie beruhigend zu erfahren, dass es diese Firma noch gibt.
Johann Wolfgang Goethe selbst ist mit zehn Zeichnungen vertreten. Eine ganz bezeichnende (!) findet sich in einem Brief an Lili Schönemann. Darin zeigt der 25-Jährige in seinem viele Seiten fassenden Schreiben, den Text mit gekonntem Strich und weit über das Skizzenhafte hinausgehend unterbrechend, wie es gerade in seiner Bude im Großen Hirschgraben aussieht. Und ganz gewiss will der Verliebte auch zeigen, wie gut er (auch) das Zeichnen beherrscht. Gleichwohl unterstreicht gerade dieses kleine Blatt, dass das Zeichnen zu Zeiten Goethes eine gängige Kommunikationspraxis war. Wie es sich gehört in einem wohlbestellten kunstinteressierten Elternhaus, hat Goethe es, im Alter von drei Jahren damit beginnend, von Grund auf gelernt.
Ein begnadeter Zeichner aber war Goethe aber dennoch nicht und dessen wohl auch einsichtig. Seine Beiträge werden durch Gegenüberstellungen gleichsam decouvriert. So etwa im Vergleich seines Porträts des Dichters Friedrich Maximilian Klinger mit Adam Friedrich Oesers sichtlich als Vorbild dienendem »Mann mit Stirnbinde«. Oder einer Nachahmung von Johann Georg Willes »Angler an der Wassermühle« mit dem Original.
Von Goethes Frankfurt mit karikaturesken Wiedergaben der Entwürfe zum ersten Denkmal für den Dichter geht es im Kellergeschoss des Mäckler-Baus zu den zeichnerischen Influencern, zu seinen Reisen in die Schweiz und nach Italien (»Freiheit und Idealität«). In der Abteilung »Zeichnen und Schreiben« kommen Dichterkollegen zeichnend zur Geltung, die Abteilung »Freundschaftsbild und Freundschaftsgabe« geht auf Porträts. Mit dem Dreischritt »Zeichnen in Gesellschaft«, »Zeichnung und Wissenschaft« und »Zeichnen und Erzählen« mündet die überaus informativ begleitete Bilderschau schließlich in der erwähnten Einladung zum Selbstversuch.
Dabei gibt es durchaus berühmte Werke zu entdecken zeigt: zum Beispiel Johann Heinrich Wilhelm Tischbeins Rückenansicht von Goethes am schmalen Fenster seines Zimmers in Rom, Goethes Farbenkreis natürlich oder die leichthändig an den Rand eines Manuskripts platzierte Portraitskizze des Goddelauer Genius Georg Büchner durch seinen Freund Alexis Muston – eine Preziose fraglos, weil rares Zeugnis von Büchners Aussehen. Und auch weitere große Zeitgenossen sind vertreten: wie Johann Heinrich Füssli, Caspar David Friedrich und Jakob Philipp Hackert, auch er ein Lehrer von Goethe, Alexander von Humboldt oder Angelika Kauffmann.
Als die wahren Highlights der in jedem Sinne ausgezeichneten Ausstellung aber dürften die Entdeckungen und Überraschungen aus der Sichtung von rund 3.000 Werken durch die Kuratorinnen Mareike Hennig und Neela Struck zu betrachten sein. Dazu gehören die Baumstudien Johann Christian Reinharts und des Maler-Müller genannten Johannes Friedrich Müller, dazu gehört aber auch die den Titel des Katalogs schmückende Zeichnung »menschliches Auge und seine Bestandteile« respektive der »schönsten aller Nasenschleimhäute« (so Mareike Hennig) in neunfacher Vergrößerung, die der Künstler Christian Köck für den Anatomen und Anthropologen Samuel Thomas Sömmering angefertigt hat. Regelrecht zum Verweilen laden die Illustrationen literarischer Werke in der Station »Zeichnen und Erzählen« ein: Füsslis Blick auf den Handwerker Stout, der in der Theaterszene von Shakespeares »Sommernachtstraum« eine Mauer spielt, die den Faust bedrängende Margarete auf Dante Gabriel Rosettis düsterem Bild und natürlich auch Goethes skurrile, die Walpurgisnacht vorwegnehmende Hexen-Phantasie.
Bleibt, auf die zahlreichen Begleitveranstaltungen hinzuweisen, von denen nicht wenige darauf zielen, die Kunst des Zeichnens handgreiflich zu vermitteln.
Lorenz Gatt / Reinhart III, © FDH
Bis 6. November: Di.–So., 10–18 Uhr; Do., 10–21 Uhr
www.deutsches-romantik-museum.de