Jeder Gerichtsfilm hat in vielen Variationen stets das Ziel, entgegen Vorurteilen, falschen Verdächtigungen und persönlichen Animositäten den wahren Schuldigen zu finden und der Gerechtigkeit zum Sieg zu verhelfen. So war es jedenfalls bis zu diesem Film. In »Saint Omer« steht eine junge Senegalesin vor Gericht, aber mit ihr auch die problematische Lage einer in Frankreich gerade mal geduldeten dunkelhäutigen Eingewanderten.
Die 1979 in Frankreich geborene, aus einer senegalesischen Familie stammende Dokumentarfilmerin Alice Diop hat sich für ihren ersten Spielfilm einen Fall vorgenommen, der sich tatsächlich ereignet hat. Die Doktorandin, die im Film Laurence Coly heißt und von Guslagie Malanda dargestellt wird, hat ihre 15 Monate alte Tochter Élise am Strand von Saint-Omer dem Meer und somit dem nahezu sicheren Tod überlassen.
Laurence steht nun vor Gericht und gibt ihre Tat unumwunden zu, weiß aber keinen nachvollziehbaren Grund anzuführen. Wie und warum es zu diesem aufsehenerregenden Kindesmord gekommen ist, möchte die sichtlich um Verständnis bemühte Richterin (Valérie Dréville) herausfinden.
Einzige Rechtfertigung der unglücklich wirkenden Laurence ist ihre Vermutung, dass sie verhext gewesen sei. Doch die angegebenen Telefonate mit einer Wahrsagerin können nicht bestätigt werden. Allein der Film sucht durch mystische Einsprengsel dieser Aussage eine gewisse Relevanz zu verleihen. Und Diop verweist mit einem Ausschnitt aus dem entsprechenden Pasolini-Film auf den Medea-Mythos.
Es geht um kulturelle Unterschiede zwischen Afrika und Europa, die auch von der Hauptfigur, der Professorin und Autorin Rama (Kayije Kagame), empfunden werden, die aus Paris angereist ist, um den Prozess zu beobachten. Die attraktive Rama hat ebenfalls senegalesische Wurzeln und ist, wie wir im Verlauf des Films erfahren, schwanger. Sie bekommt sogar körperliche Beschwerden, weil sie sich mit Laurence zu identifizieren beginnt.
Rama ist ein Alter Ego der Regisseurin, die von dem Prozess so fasziniert war, dass sie nach intensiver Beschäftigung mit dem juristischen Fall schließlich selbst nach Saint-Omer gereist ist, auch um die ablehnende Stimmung gegenüber Schwarzen in der nordfranzösischen Provinz zu spüren.
In der Gerichtsverhandlung, die in strengen Porträteinstellungen gefilmt ist, entsteht eine Front zwischen den beteiligten weißen Männern, dem streng fragenden Staatsanwalt (Robert Cantarella) und Luc Dumontet (Xavier Maly), der Laurence als eine Unsichtbare, die er vor seiner Familie verborgen gehalten hat, bei sich aufgenommen und geschwängert hat, und den weißen Frauen. In der Verhandlung gibt Dumontet den tief betroffenen Vater, und man weiß nicht so recht, ob ihm Malys schauspielerische Fähigkeiten oder eine Generosität des Drehbuchs eine gewisse Glaubwürdigkeit verleihen.
Die Anwältin Vaudenay (Aurélia Petit) hält am Ende ein schlüssiges Plädoyer für ihre Mandantin, die ihrer Meinung nach aus Verzweiflung gehandelt hat. Und von der mitfühlenden Richterin ist ein mildes Urteil zu erwarten, das der in Venedig mit dem Großen Preis der Jury ausgezeichnete Film so unbefriedigend wie konsequent ausspart.