Auf europäischem Boden
Kurz vor dem Ende der Berlinale konnte man kaum noch daran zweifeln, dass Gianfranco Rosi nach dem Goldenen Löwen 2013 in Venedig für »Das andere Rom« nun auch für seinen neuen Film den Goldenen Bären bekommen würde. Dabei war »Fuocoammare«, der jetzt als »Seefeuer« in unsere Kinos kommt, einer von zwei Dokumentarfilmen im Wettbewerb (keiner konnte sich erinnern, dort jemals etwas anderes als Spielfilme gesehen zu haben), doch auch das schien kein Hindernis zu sein, so überzeugend war die Wirkung auf das Publikum.
Bilder von Flüchtlingen auf wenig seetauglichen Schiffen und völlig untauglichen Schlauchbooten kennen wir aus den täglichen TV-Nachrichten. Aber die Menschen darauf bleiben uns doch merkwürdig fern, allenfalls für politische Diskussionen geeignet. Rosis Film, der glücklicherweise ohne belehrenden oder bemitleidenden Kommentar auskommt, bringt sie uns näher. Auch wenn er darauf verzichtet, auf einzelne intensiver einzugehen, die Erleichterung, Skepsis und Sorge in ihren Gesichtern ist mit Händen zu greifen. Doch der Film belässt es nicht bei den Flüchtlingen, er zeichnet ein Porträt der Mittelmeerinsel Lampedusa, die, zwischen Libyen und Sizilien gelegen, für Afrikaner der erste feste europäische Boden ist, den sie zu erreichen versuchen.
Zwei Welten gibt es auf dieser Insel. In der einen leben die Einheimischen, die nur per Radio mitbekommen, wenn wieder Boote von der Marine, die einen großen Aufwand betreibt, geortet worden sind. Die Zahl der Ertrunkenen wird mitleidig von einer alten Frau beim Kochen kommentiert. Über das Meer kamen im Zweiten Weltkrieg die Amerikaner, jetzt kommen die Afrikaner. Küstenbewohner sind einiges gewohnt und reagieren entsprechend gelassen.
Der 12-jährige Samuele hat es dem Filmemacher Rosi ganz besonders angetan. Der Film beobachtet ihn, wie er sich eine Steinschleuder baut, nachmittags Schießübungen mit seinem Freund macht und von seinem Vater den Rat bekommt, statt herumzustreunen lieber auf dem schwankenden Bootssteg seinen Magen gegen Seekrankheit zu trainieren. Denn Samuele will das Fischerboot vom Vater übernehmen. Eine Menge Filmzeit bekommt der Junge. Er wird mit seinem trägen linken Auge zum Symbol des Lebens neben dem Flüchtlingselend. Der Arzt verschreibt ihm eine Augenklappe für das gesunde rechte Auge, um das träge linke zu aktivieren. Vieles scheint inszeniert in diesen Sequenzen.
Derselbe Arzt berichtet auch von den Risiken, die die Menschen auf sich nehmen, um nach Europa zu kommen. Von ihren Verätzungen durch den Treibstoff der Schiffe, von den erschöpften, völlig dehydrierten Körpern und den Todesfällen. Erschütternd, wenn die Kamera in den Bauch eines Schiffes führt und die Leichen von denen zeigt, die es nicht geschafft haben. So rüttelt der Film in beide Richtungen auf: nach Europa, wo man von der Situation im Süden Italiens lieber nichts wissen will, aber auch nach Afrika, wo man die Lebensgefahr offenbar unterschätzt und das menschenverachtende Geschäft der Schlepperbanden hinnimmt. Wer »Seefeuer« gesehen hat, kann seine Augen jedenfalls nicht mehr verschließen.