Mit den Augen des Malers geschrieben
Gut vierzig Jahre hat der Engländer John Berger im Südosten von Frankreich verbracht. Er hat gemalt, geschrieben, viele kunsthistorische Studien, Romane und Erzählungen, er hat an Filmen mitgearbeitet, er hat als Künstler gelebt. Nach dem Tod seiner Frau ist er in die Nähe von Paris gezogen. Letztes Jahr ist er dort gestorben. In der Edition Akzente des Hanser Verlages sind jetzt seine letzten gesammelten Geschichten erschienen.
Man muss den Mann mögen. Schon deshalb, weil er wirklich ein guter Typ war. Klug, sensibel, umfassend gebildet und dazu beeindruckend menschenfreundlich. Er wollte Künstler werden. Er ist, nach einigen Umwegen, Künstler geworden, auch als Lehrer hat er gearbeitet. Es ging ihm nie ums Geld, sondern um die Sache, seine Sachen. Sein letztes Buch, diese sehr unterschiedlichen Beiträge, sind kurz vor seinem Tod entstanden. Kein Roman also, keine Sammlung von Erzählungen, sondern eine Art von Sammelsurium. Man muss also den Mann mögen, dann wird man, versprochen, auch dieses Buch mögen. »Für mich gehört Schreiben zum Leben, es hilft mir, einen Sinn zu entdecken und weiterzumachen.« Und das vermittelt sich beim Lesen.
Angestoßen durch Camus’ »Der erste Mensch«, fragt Berger sich, »was mich zu dem Geschichtenerzähler hat werden lassen, der ich heute bin.« Die Voraussetzungen waren nicht gerade günstig. Er sah die arbeitenden Eltern selten. Früh haben sie ihn in ein Internat gesteckt, einmal im Vierteljahr besucht. »Mit sechzehn lief ich aus dem Internat weg und fand einen Weg, mit Freunden allein in London zu leben.« Weil er so früh auf sich gestellt war, sich als »Waise« fühlte, ist er der Meinung, wir Waisen »finden uns mit der Scheißwelt ab und tauschen Geschichten darüber aus, wie man trotz allem überlebt.« Vermutlich hat er deshalb zur Kunst gefunden nach Nietzsches Motto: Wir haben die Kunst, um an der Wahrheit nicht zugrunde zu gehen.
Berger hatte keine Lieblingsbar, aber ein Lieblingsschwimmbad. Er liebte es, zu tauchen, dann hatte er den Eindruck »in eine andere Welt zu stoßen«. Auf dem Rücken liegend, mit Blick in den Himmel, sah er »ein lebhaftes Blau mit weißen Zirruswolken.« Durch den Wind treiben »die ›Locken‹ langsam auseinander, trennen sich und kommen wieder zusammen«. Plötzlich hat er das Gefühl, nicht er betrachtet den Himmel, sondern »die Locken der weißen Zirruswolken beobachten einen Mann, der mit hinter dem Kopf verschränkten Armen im Wasser treibt«. Der alte Mann sieht, wie sich die Welt verändert hat.
Er räsoniert über Chaplin und dessen Filme, die auch heute noch »nichts von ihrem überdrehten Humor, ihrem Biss und ihrer Erleuchtung eingebüßt« haben. Von Chaplin kommt er zwanglos zur Finanzspekulation und ihren Agenten. Dort fallen die Entscheidungen, nicht durch eine »demokratisch legitimierte Politik«.
Berger trauert um seinen Freund Sven aus Stockholm. Sie kannten sich 50 Jahre. Sie hatten gemeinsam »Dächer repariert. Gekocht. Gemeinsam an Büchern gearbeitet. Reisen unternommen. Zement gemischt. Demonstriert«. Dieser Sven erscheint geradezu als Sinnbild eines Künstlers im 20. Jahrhundert. »Sven war über sechzig Jahre lang hauptberuflich Maler, aber in all den Jahren verkaufte er weniger Bilder als jeder andere Künstler, den ich kannte. Deshalb lebte er mit beachtlichen finanziellen Engpässen. (…) Und trotzdem verging kein Tag, an dem er nicht einen Pinsel, ein Stück Pastellkreide oder einen Stift zur Hand nahm, um zu arbeiten – und er vergaß darüber die Zeit und betrat jene Jahreszeit, in der die Natur uns in ihrer Unschuld überrascht.« Berger schien es, dass Sven nicht seine Sujets gewählt hat, sondern umgekehrt, dass die Dinge bei ihm »ihre Bestellung« aufgaben. Berger bewegte sich stets auf der Grenze zwischen (künstlerischer) Magie und (politischem) Realismus.
»Utopien verachten die Gegenwart. Sie ersetzen die Hoffnung durch Dogmen. Dogmen werden in Stein gemeißelt; Hoffnung hingegen flackert wie die Flamme einer Kerze.« Bilder, zu denen er Zugang haben möchte, schaut er erst einmal an »und nach einem Moment des Innehaltens, des Luftholens«, tritt er ein. »Die Farben in den Gemälden murmeln, flüstern und pfeifen.« Fazit: Hoffnung bewahren, »den Mut zum Widerstand« behalten und den »unvorstellbaren Umständen trotzen«.