Wie Walter Matthau auf Speed
»St. Vincent« von Theodore Melfi
Im Kino werden grimmige alte Knacker gemeinhin zu netten Zeitgenossen geläutert. Nettigkeit oder auch nur zivilisierte Umgänglichkeit wird in dieser Tragikomödie, die für zwei Golden Globes nominiert wurde, aber meist mit großem Einfallsreichtum weiträumig vermieden. Vincent ist und bleibt bis zum Happy-End ein alter Zausel mit Socken in Sandalen, der raucht, säuft, hurt, zockt und klaut und jedem, der ihm über den Weg läuft, ein böses Wort mitgibt.
Vincent (Bill Murray) ist ein Typ, der auf den Schrei einer Schwangeren – »Meine Fruchtblase ist geplatzt« wie aus der Pistole geschossen erwidert: »Dann hol’ einen Klempner!« Doch Vincent, so fertig er auch ist, macht tolle Dinge, über die er nicht redet. Dieses nicht reden über das Gute, das man aus einem Instinkt heraus tut, ohne darüber nachzudenken, dass man etwas Gutes tut, ist das Bauprinzip dieser Tragikomödie.
So wird Vincent also eines Tages von dem kleinen Oliver (Jaeden Lieberher) angehauen, der mit seiner Mutter das Haus nebenan bezogen hat. Oliver, aus der Schule kommend, hat keinen Haustürschlüssel; Vincent lässt ihn widerwillig in seine verwahrloste Bude, wo der Kleine auf seine Mutter wartet. Daraus wird ein Babysitter-Job, den sich der abgebrannte Menschenfeind von Olivers Mutter Maggie (Melissa McCarthy), einer Krankenschwester, teuer entlohnen lässt. Nun nimmt er Oliver, ein ebenso lakonisches wie tapferes Bürschchen, auf seinen täglichen Runden in Kneipen, Stripclubs und auf die Rennbahn zu Pferdewetten mit. Bei diesen Touren lernt der zarte Bub Lektionen fürs Leben; nicht zuletzt bringt ihm der Alte bei, wie man Gegner K.o. schlägt.
Diese formelhaft scheinende Geschichte ist schon deshalb etwas Besonderes, weil sie die Alltagsprobleme einer alleinerziehenden Mutter abbildet. Maggie stresst sich weniger wegen der Unterhaltsverweigerung des Kindsvaters, sondern vor allem wegen unvorhersehbarer Arbeitszeiten und fehlender Betreuung (obwohl die Situation in den USA im Vergleich zu Deutschland paradiesisch wirkt). Und es ist schön, dass Melissa McCarthy nicht als Freak auftritt, sondern als »working mum«, die verzweifelt rudert, um Kurs zu halten. Naomi Watts dimmt gekonnt ihren Glamour und spielt mit derbem osteuropäischem Akzent eine Prostituierte, die mit ihrem Babybauch an der Stange tanzt. In dem bis in die Nebenrollen clever besetzten Ensemble sticht außerdem Chris O’Dowd (»The IT Crowd«) als cooler Lehrer einer konfessionellen Privatschule heraus.
So erinnert Ted Melfis Langfilmdebüt in seiner ungeschminkten Perspektive auf die Brooklyner Working Class einesteils an britische Sozialkomödien. Andererseits zielt das Timing von Krankheit und Tod allzu offensichtlich auf die Bildung einer neuen Familienkonstellation. Dank des kontrapunktischen Drehbuchs, in dem tatkräftige Grundanständigkeit und unflätiges Gemaule eins werden, ist manches Klischee leichter verdaulich. Wurde schon erwähnt, dass Bill Murray, der wie ein Walter Matthau auf Speed herumschimpft, zum Niederknien großartig ist?