»Die leisen und die großen Töne« von Emmanuel Courcol

Als sich zwei Brüder erst im fortgeschrittenen Alter kennenlernen, begegnen sich zwei unterschiedliche Milieus. Eine Welt der gediegenen Konzertsäle in den Metropolen mit der entsprechenden gesellschaftlichen Anerkennung trifft auf die Provinz, auf den Norden Frankreichs. der ums Überleben kämpft. Regisseur Emmanuel Courcol hat das zu einer originellen Tragikomödie montiert, die für das Kinopublikum manche Überraschung bereithält.

Ein ernster Vorfall steht am Beginn: Der 37-jährige Stardirigent Thibaut (Benjamin Lavernhe) bricht mitten in den Proben vor dem Orchester zusammen. Thibaut hat Leukämie und braucht dringend eine Knochenmarkspende. Bei einer Genanalyse stellt sich heraus, dass seine Schwester Rose (Mathilde Courcol-Rozès) nicht mit ihm verwandt ist. Über all die Jahre hat ihm die Familie verheimlicht, dass er adoptiert wurde und einen leiblichen Bruder hat.
Der Film hält sich mit den Gefühlsverwirrungen und den ethischen Fragen nicht lange auf. Kurz nach Aufdeckung des Familiengeheimnisses steht Thibaut bei seinem jüngeren Bruder Jimmy (Pierre Lottin) und dessen Adoptivmutter Claudine (Clémence Massart-Weil) im Wohnzimmer. Der neue Bruder ist erst einmal nicht erbaut, noch dazu, als er hört, dass von ihm – gewissermaßen als Begrüßungsgeschenk – Knochenmark erwartet wird. Doch die energische Mama spricht ein Machtwort, zu Anstand und Hilfsbereitschaft habe sie Jimmy erzogen. (Was sie ja mit dessen Adoption schon vorgelebt hat, möchte man als Zuschauer ergänzen.)
Aber vielleicht gehört zur Großzügigkeit auch eine recht sorgenfreie Existenz, und die ist für Jimmy nicht gegeben. Er arbeitet als Koch in der Kantine einer Fabrik, die in großen wirtschaftlichen Schwierigkeiten steckt. Gegen deren Schließung organisiert Jimmys Kollegin Sabrina (Sarah Suco), die sozusagen für den romantischen Teil des Films steht, einen Streik.
Doch die wahre Liebe gilt der Musik. In seiner Freizeit spielt Jimmy Posaune in der Blaskapelle des Werkes. Und so bekommt die Beziehung zwischen den beiden Brüdern erst Konturen, als sie ihre gemeinsame Musik-Begeisterung und das musikalische Talent von Jimmy entdecken. Auf dieser Ebene trägt der Film auch die sozialen Gegensätze aus. Hier die volkstümlichen Blechbläser und dort das klassische Symphonieorchester. Da hilft es, dass Thibaut frei von jeglichem Dünkel ist und am Klavier die Nähe von Klassik und Jazz demonstriert – und auch der Regisseur ein gutes Gefühl für die passende Musik zur jeweiligen Szene hat.
Schließlich möchte Thibault seinem Bruder etwas von seinen Erfolgserlebnissen abgeben. Als Entschädigung, dass dieser in seinem Leben das schlechtere Los gezogen hat, ermutigt er ihn, die vakante Dirigentenposition in dessen Blasorchester zu übernehmen, und bringt ihm gleich selbst das Dirigieren bei. Eile ist geboten, denn ein großer Wettbewerb steht vor der Tür.
Doch an dieser Stelle geht es dem Drehbuch von Emmanuel Courcol und Irène Muscari weniger ums Behaupten im Wettstreit (à la »Brassed Off – Mit Pauken und Trompeten«) als um das Binnenverhältnis zwischen den Brüdern, das durch Jimmys Gefühl, überfordert zu werden, strapaziert wird. Das große Thema des Films ist eben ein Plädoyer für Mitgefühl über soziale Grenzen hinweg, und dabei nicht in ein allzu rührseliges Feelgood-Movie abzurutschen.
Die vielen Themen, die der Film behandelt, werden am Ende gerade durch die Musik zusammengehalten, insbesondere durch den unvergleichlichen Klassik-Hit »Bolero« von Maurice Ravel.

Claus Wecker / Foto: © Neue Visionen Filmverleih
>>> TRAILER
Die leisen und die großen Töne (En fanfare)
Tragikomödie von Emmanuel Courcol, F 2024, 103 Min.
mit Benjamin Lavernhe, Pierre Lottin, Sarah Suco, Jacques Bonnaffé, Clémence Massart, Anne Loiret
Start: 26.12.2024

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