Staatstheater Mainz zeigt eine düstere »Anna Karenina« mit glänzenden Schauspielern

Ach, schau an: Eheberatung ist kein so neuzeitliches Phänomen, sondern war schon vor 120 Jahren gängig. Anna Karenina (Kruna Savic) kommt nach Moskau, um das Verhältnis ihres Bruders Stiwa (Johannes Schmidt) zu seiner Gattin Dolly (Katharina Uhland) zu kitten, die die Nase voll hat von diesem Fremdgeher, Herumtreiber und Vater von fünf lebenden (und zwei toten) gemeinsamen Kindern. Die Mission wird erfüllt, die Ehe gerettet.
Bravo Lev Tolstoi: Passender kann man das Ehebruch-Drama, das der Protagonistin seines epochalen Romans bevorsteht, kaum einläuten. »Mein Mann ist ein guter Mann«, sagt Anna der Schwägerin noch, da verliebt sie sich auch schon Hals über Kopf auf einem Ball in den feschen Draufgänger Wronskij (Orlando Klaus), in Kauf nehmend zudem, dass sie damit alle Träume von Dollys jüngerer Schwester Kitty (Johanna Engel) zerstört. Später, viel später, wird der familiären Eheberaterin klar, dass es nicht dieser Mann war, der sie unwiderstehlich anzog, sondern allein ihr Bedürfnis, dem schalen häuslichen Glück zu entfliehen.
Regisseur Alexander Nerlich, der hier zuletzt Schillers »Kabale und Liebe« so lala mit viel Effekthascherei und eine starke »Hexenjagd« inszenierte, präsentiert Lev Tolstois Werk in der neusprachlichen Übersetzung von Rosemarie Tietze als schnelle, fast im Takt wechselnde Folge dialogischer Szenen. Der Erzähler bleibt ausgespart, statt seiner leuchten Choreografien, Geräusche und Stimmen aus dem Off die Befindlichkeiten der Akteure aus, was besonders für die Titelfigur gilt, die schon bei ihrer Zuganfahrt von bösen Träumen heimgesucht wird. Im Fortlauf setzt Nerlich Anna sogar der nagenden Stimme eines Wiedergängers (Lorenz Klee) eines bei ihrer Ankunft grausig auf den Gleisen verunglückten Hobo aus, der auch als Vorbote der Revolution verstanden werden kann (im Roman ist es ein Bahnarbeiter). Schwarz und schwärzer, wie das Kleid, das sie trägt, wird das Stück, wird ihr nun folgender Kampf um ihr Kind, um das Glück und um ein würdiges Leben.
Mit einer drehbaren multifunktionalen Trennwand in der Mitte grundiert die Bühne von Thea Hoffmann-Axthelm einen so flotten wie variablen Handlungsablauf, der uns buchstäblich im Umdrehen mit spektakulären und schönen Bildern von der Rennbahn in Stiwas Herrenklub, von Wronskijs Kaserne in den großen Ballsaal oder die Petersburger Wohnung Annas katapultiert. Ganz wunderbar, wenn Kitty und der etwas (zu) vertrottelte Ljewin (Carl Grübel) sich an diese Wand klammernd Schlittschuh laufen. Bewegend, wenn das flachgelegte Brett den unsicheren Boden von Anna und Wronskij bei ihrem Neustart auf dem Land spüren lässt.
Besucher dürfen sich auf ein großes Schauspielfest freuen, mit einer brillanten Kruna Savic im Zentrum, die sich glaubhaft in alle Nuancen ihrer sich unentwegt selbst suchenden Figur zu vertiefen weiß. Johannes Schmidt (Stiwa), Johanna Engel, deren Kitty bei der Premiere den einzigen Szenenapplaus einfuhr, Martin Hermann (als Gatte Karenin), Lorenz Klee in diversen Nebenrollen und vor allem die als Annas Sohn Serjoscha irrlichternde Alessia Ruffolo setzen weitere Glanzlichter in dem düsteren Drama.
Weshalb Nerlich in der allerersten Szene seiner Inszenierung Wronskijs Kameradenhorde davon faseln lässt, dass es mal wieder einen Krieg brauche und Bombardements für das nationale russische Ganze, wirkt bemüht und ist deshalb auch schnell wieder aus dem Kopf an einem nicht unanstrengenden, doch über drei Stunden (mit Pause) in Bann haltenden Theaterabend.

Winnie Geipert / Foto: © Andreas Etter

Termine: 3., 24. Januar, jeweils 19.30 Uhr
www.staatstheater-mainz.com

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