Staatstheater Wiesbaden hudelt Houellebecqs Roman »Vernichten« auf die Bühne

Michel Houellebecqs Roman »Vernichten« (2022) ist ein Buch um Leben und Tod, Ehe und Familie, Sehnsucht und Scheitern und die französische Politik und Gesellschaft in einer Zeit der Eskalation, im Sinne des im Moment verbreiteten Genres der Near-Future-Romane, angesiedelt in der Zeit des Wahlkampfs am Ende der Ära des nicht namentlich genannten, aber doch erkennbaren Emmanuel Macron im Jahr 2027. Der Präsident kann nach zwei Amtszeiten der Verfassung nach vorläufig nicht weiterregieren und hat darum einen schnell wieder abschiebbaren Privatfernsehentertainer, zuletzt Moderator eines vielgesehenen Polittalks, als Kandidaten gegen jenen des Rassemblement National inthronisiert.
Eine ganze Menge der Motive und Seitenmotive aus dem Sechshundertseitenroman klingt an in dem von Bernd Mottl nach dem Textcomprimé von Sophia Aurich inszenierten Zweieinhalbstundenabend am Wiesbadener Staatstheater. Nützt bloß nichts. Denn alles geht husch, husch mal so drüber weg. Gerade am Anfang gebärden sich die Figuren wie in einer Boulevardkomödie. Hätte ein interessanter Ansatz sein können, geht es doch nicht zuletzt auch um den Zustand von langjährigen Ehen. Aber es geht ja immer husch, husch weiter, in gleitenden Wechseln, auf die hin der Raum des Ausstatters Friedrich Eggert mit seinen drei gestaffelten Gardinen um eine Schräge mit einer Leichenkühlhauswand konstruiert ist. Ein Geheimdienstler führt dem Wirtschaftsminister ein täuschend echt generiertes Video mit dessen angeblicher Guillotinierung vor. Husch, husch, eine Ärztin – Nicola Schubert, abgesehen vom Hauptdarstellerpaar spielt jeder wechselnde Rollen – platzt herein: »Ihr Vater liegt im Wachkoma«. Husch, husch, weiter. Husch, husch, ein neues Video um einen Anschlag auf ein Containerschiff auf der Route von Shanghai nach Rotterdam ist aufgetaucht, kein Fake diesmal. Und so geht es weiter, husch, husch, husch. Später dann ein weiteres Video um einen (wiederum realen) Anschlag auf ein Schiff mit fünfhundert Migranten an Bord. Urheberschaft in allen Fällen schleierhaft.
Wirkt alles scheußlich stadttheater-hüftsteif, stellenweise auch kabarettistisch, samt unmotiviert-hölzernen Ausbrüchen. Und weshalb bloß ist beispielsweise der Auftritt von Palesa Motolo als PR-Managerin für den Wahlkampf derart satirisch-spektakulär mit Hymne aufgemotzt?
In Houellebecqs Buch führt jede Tür auf einen Gang, von dem wieder Türen abgehen. Bernd Mottl macht Türen auf und will nicht nachschauen, was dahinter ist. Eine Hudelei, ohne Eindrücklichkeit und Tiefe. Immer besinnungslos weiter, bis Aurich und Mottl sich nach der Pause auf ein einziges der vielen Motive bei Houellebecq fokussieren. Diagnose Krebs im Mundraum bei Paul, Teile des Kiefers und der Zunge sollen entfernt werden. Paul möchte sich nicht verstümmeln lassen, entscheidet sich gegen eine Operation und nimmt den baldigen Tod in Kauf. Schlimm eindimensional besonders das Spiel von Hanno Friedrich in dieser Rolle. Jedes Gefühl mit dem jeweils naheliegendsten Verziehen des Gesichts markiert, wie in einer Vorabend-Soap. Und dann ein Tänzchen im Rollstuhl mit der Prudence von Sybille Weiser.
Auch hier wieder die Krux, wie mit dem Gros der vielen Prosaadaptierungen im gegenwärtigen Theater: es ist verfehlt worden, ein Theaterstück von eigenem Recht zu schaffen. Das selbstredend in beliebiger Weise von der Vorlage abweichen könnte. Stattdessen eine Stutzversion, zusammengezimmert ohne Gespür für Form und Eleganz.

Stefan Michalzik / Foto: © Andreas J. Etter
Termine: 2., 14., 21., 26., 27. Juni, 19.30 Uhr
www.staatstheater-wiesbaden.de

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