Den kritischen Blick auf die glänzende Oberfläche der US-amerikanischen Mittelschicht, wo man sich immerfort beteuert, dass es einem gut geht und alles ok ist, hat Todd Haynes schon vor langer Zeit zum Markenzeichen seiner Filme gemacht. In seinem neuen Werk beschreibt er die delikate Begegnung zweier Frauen, die von den faszinierenden Oscar-Preisträgerinnen Nicole Portman und Julianne Moore dargestellt werden.
Es ist Moores sechste Zusammenarbeit mit dem Regisseur, und erneut glänzt sie in ihrer Paraderolle als amerikanische Hausfrau. Ihre Gracie Atherton-Yoo hat sich vor mehr als zwei Jahrzehnten im Alter von 36 Jahren in den Siebtklässler Joe verliebt und mit ihm eine Affäre begonnen. Das hat der bis dahin unbescholtenen Ehefrau einen landesweiten Skandal und eine Gefängnisstrafe eingebracht.
Zu Beginn des Films ist Joe Yoo (Charles Melton) so alt wie Gracie damals. Beide sind miteinander verheiratet und leben mit ihren Kindern und den Enkeln aus Gracies erster Ehe in einem geräumigen Haus an einem See in Savannah, Georgia. Gracie ist mit den Vorbereitungen zu einer größeren Party beschäftigt, als Natalie Portman alias Elizabeth erscheint. Sie soll in einer Verfilmung des einstigen Skandals die Rolle der Gracie übernehmen und hat darum gebeten, die reale Gracie und weitere Personen kennenzulernen, die seinerzeit die Ereignisse erlebt haben.
Elizabeth gibt zunächst die Zurückhaltende, wird aber sofort in der oben genannten Manier beschwichtigt. Ein ganz normaler Besuch bei einer ganz normalen Familie soll die Begegnung sein. Doch so einfach liegen die Dinge in Savannah eben nicht. Gerade ist wieder einmal ein Paket mit Kot eingetroffen. In dem Ort, in dem alles passiert ist, wird Gracie zwar nachbarschaftlich unterstützt, aber nur ein ganz kleiner Kreis kauft ihr die Kuchen ab, die sie mit Liebe backt. Als eine Bestellung storniert wird, bekommt sie einen Nervenzusammenbruch. Und Joe versucht sie väterlich zu beruhigen. Dagegen bestimmt sie im Alltag.
Die Schauspielerin Elizabeth ist mit ihrer TV-Karriere unzufrieden und will endlich einen großen Auftritt in dem geplanten Film zustande bringen. Dafür beginnt sie sich immer intensiver mit Gracie zu identifizieren. Ja, sie phantasiert sogar die Liebesszene von Grazie und dem kleinen Joe im Lagerraum der Tierhandlung, in dem beide entdeckt worden sind. Diese Szene könnte auch aus einem Cronenberg-Film stammen.
Bergmans »Persona« ist natürlich das große Vorbild. Doch Haynes streift es nur kurz, wenn er einmal Elizabeth mitten zwischen Grazie und deren Spiegelbild zeigt. Im Gegensatz zum experimentierfreudigen schwedischen Meister erzählt er im direkten, amerikanischen Stil. Das Verschwimmen der Identitäten bleibt bei ihm untergründig. Letztlich handelt es sich bei beiden Haynes-Figuren um Außenseiterinnen, was sie nicht zugeben würden.
Eine besondere Attraktion des Films ist zudem die drängende Musik Michel Legrands aus Loseys »The Go-Between«, die von Marcelo Zavros adaptiert und erweitert wurde. Alles zusammen macht »May December« – der Titel spielt auf den großen Altersunterschied eines Paares an – zu einem zwar verhaltenen, aber deshalb umso eindringlicheren Drama.