Gewalt liegt in der Luft
Ein idyllisches Hafenstädtchen in Kroatien. Zwei Männer mieten ein Boot, um stromaufwärts zu einem Wasserfall zu fahren. Ein reiner Vergnügungsausflug ist das nicht, das merkt man schon an der mürrischen Schweigsamkeit der beiden. Es sind Brüder, die sich vorher nie gesehen haben, und das Ziel ihrer Reise ist der Ort, an dem der Vater sich umgebracht hat.
Lange Zeit geschieht nur wenig, sieht man einmal davon ab, dass Kinder ihnen zum Abschied einen kleinen Hund geschenkt haben, um den sich Homer und Joé nun kümmern müssen, dass eine Menge Bier getrunken und Zigaretten geraucht werden, und dass die beiden, ein Schriftsteller und ein Spediteur, sich sehr langsam, vorsichtig und dann auch wieder gereizt, einander annähern. Nur wenige Informationen über den Vater können getauscht werden. Der eine ist ganz ohne ihn aufgewachsen, der andere mit spärlicher Gegenwart. War er ein guter Vater? Ja, sagt Homer, aber da ahnen wir eigentlich schon, dass genau das Gegenteil der Fall war.
Marion Hänsel montiert diese kargen, widersprüchlichen Charaktere, die wilde Romantik der Flusslandschaft, die Poesie der Langsamkeit, wie wir es von dieser Regisseurin kennen, zu einer dunklen Mischung aus Schönheit und Bedrohung. So schön es da ist, so rasch können Technik und Natur ihre Beherrschbarkeit verlieren. Und so rasch können die beiden Männer in der Enge von Boot und Lagerplatz ihre Beherrschung verlieren. Man ist zugleich eingesperrt miteinander und allein gelassen in endloser unbewohnter Natur. Nein, ein Vergnügungsausflug ist diese Reise an einen Ursprung und an ein Ende gewiss nicht.
Schwer wird der Aufstieg zu einem kleinen Kloster in den Bergen. Dort hatte sich der Vater erschossen, ohne dass ein äußerer Grund erkennbar war. Unterwegs treffen Homer und Joe auf den Iren Sean, der trägt ein Gewehr, zum Schutz gegen wilde Tiere, sagt er. Es stellt sich heraus, dass Sean den Vater gekannt hat. Gewalt liegt in der Luft, die latente Bedrohung drängt zur Entladung – und endet in einer fürchterlichen Ernüchterung.
Die Reise stromaufwärts war nicht nur eine zum Zentrum eines schwierigen Familienromans, sondern auch eine zu den Ursprüngen des Balkankrieges, zu den Ursprüngen, vielleicht, des Zerfalls von Europa. Und da wir nicht in Hollywood sind, werden auch aus den beiden Brüdern keine Buddies. Nur einander ein bisschen verstehen, das haben Joe und Homer schon gelernt auf dieser Reise.
Marion Hänsel ist ein kleines Meisterwerk in der Zeichnung von Charakteren, in der Mise-en-Scène und im Spannungsaufbau gelungen; mit traumhafter Sicherheit enthüllt sie Schicht um Schicht etwas von der Geschichte, nie so viel, um das eigene Urteil der Zuschauer zu gängeln, nie so wenig, um uns in Mystery-Nebel zu hüllen. Wir sind beim Zusehen Teil einer (schmerzhaften, aber notwendigen) Aufklärung, und wir wissen auch am Ende, dass ohne sie Homer und Joe nicht wirklich weiter hätten leben können, so wie ohne eine Aufklärung der vielen Aspekte der Kriege und Bürgerkriege Europa nicht wird weiter leben können. Vielleicht kann man dann ja doch von einem Happy End in »Stromaufwärts« sprechen. Nicht in einer Alles-wird-gut-Art, sondern dergestalt, dass die Bilder, die Ereignisse, die Worte am Ende einen Sinn ergeben, dass die Reise mehr gebracht hat als Erbe und Glück: die Wahrheit.