Man sollte den sperrigen Titel des neuen Tanzstücks am Staatstheater Mainz nicht allzu zu ernst nehmen. Im Programmheft zu »History is Mostly Made of Flesh« gibt sich dessen kanadischer Choreograf Frédérick Gravel verwundert, dass er noch vor dem ersten Gedanken zu dem vor mehr als einem Jahr während der Soul-Chain-Tournee in Montreal erteilten Auftragswerk, hatte benennen müssen, wie dieses heißen wird. Gleichwohl ist es die nackte Haut der sechs Tänzer und acht Tänzerinnen des tanzmainz-Ensembles, die im Laufe einer spektakulären einstündigen Schau nachgerade subkutan bloßgelegt wird.
Zunächst nämlich sehen wir die Akteure weitgehend eingehüllt in wilde, verschiedenste Epochen und Stile vereinigende Kostümmixturen (Viktoria Schrott) aus der Historientruhe. Sie tragen Spitzen, Rüschen, Mieder, Lackstiefel, Krawatten und vieles mehr – von Queen Victoria bis Punk. Mehr angemalt als geschminkt, mit ungläubigen Puppenblicken in das Publikum verharren die Vierzehn nahezu regungslos an der Bühnenrampe, während sich aus dem Off die Callas-Arie »Ebben? Ne andrò lontano« aus Alfredo Catalanis Oper »La Wally« erhebt. Dass es darin um einen schmerzhaften Abschied geht, ist für das Weitere nicht von Belang, Cineasten werden das Gesangstück aus »Diva« kennen. Es ist das erste von vielen berauschenden Bildern an diesem Abend.
Mit dem Verebben der Göttlichen setzt zu vorsichtig anschwellenden Beats ein zaghaftes Zucken und Rucken in den Gesichtern und Körpern der Tänzer*innen ein, als würde ihnen Leben eingehaucht und jede/r von ihnen, sich mit den Fingern vorsichtig betastend, seiner/ihrer selbst gewahr. Gehört das zu mir? Bin das ich? So scheinen sie mit stetem Blick auf uns zu fragen, während die Gruppe sich in kaum merkbaren Bewegungen in zwei, dann drei sich ständig verändernde Formationen teilt, die jeweils eine Figur fokussieren. Man denkt an das Tableau-Vivant-Spiel aus Goethes »Wahlverwandtschaften«, doch immer ist auch Selbsterkundung in dem von den pausenlos anbrandenden Wellen des Soundtracks von Tomas Furey angetriebenen Bewegungen, die nie mehr zur Ruhe kommen werden.
Diese Ichwerdung, wenn es denn eine ist, setzt sich in den ersten Gehversuchen fort, bei denen plötzliche Knicks in den Knien von der noch stotternden Motorik der Beine zeugen. Ein ständiges Hin und Her von links, nach rechts und zurück entsteht auf der Bühne, das Tänzer*in für Tänzer*in wie am Schnürchen gezogen, wie ferngelenkt vorüberziehen lässt. Meist allein, mal zu zweit, zu dritt, mal für ein paar Schritte synchron in der Bewegung, ohne dass es je einen Kontakt zwischen ihnen gäbe. Manches erinnert an Rafaele Giovanolas mit dem Faust-Preis gewürdigte Geh-Studie »Sphynx«.
Nach und nach aber streifen die Tänzer ihre Avatar-Hüllen ab, landen Tüll, Glitter, Spitzen, und Schuhwerk am Bühnenrand, verschwindet alles bis auf die sittlich gebotenen Trikots von den schönen Körpern. Wie Gravel dann rauskommt aus dieser Nummer ist so überraschend aber nicht, gleichwohl in jedem Sinn berührend, wenn aus 14 Individuen in unbeschreiblicher Zartheit sieben Paare entstehen. In Bildern, die unter die Haut gehen. Standing Ovations mal wieder in Mainz. Und Lust auf mehr des hierzulande noch nicht so bekannten Meisters.