The Grand Exhibition von »Gilbert & George« in der Schirn zeigt Werke von 1968 bis 2016

Wie kann man nur über fünf Jahrzehnte so aufrührerisch, so doppelbödig, so rein, so poetisch, so zärtlich und so anteilnehmend sein? So bunt, so schrill, so herzlich, so verstörend? So angreifend, so zersetzend, so böse und so liebevoll? Und auch: dekorativ … Wie kann man sich diesen Geist nur so ungestört und ungehemmt bewahren?
Vielleicht sollte man damit beginnen, indem man von dem ersten größeren Auftritt von Gilbert & George berichtet, den sie sich als so genannte »Singing Sculptures« ausgedacht hatten: Sie sangen »Underneath the Arches«, ein Lied aus dem Jahr 1932, als die Weltwirtschaftskrise das Land schrecklich beutelte, viele Menschen in die Verzweiflung stürzte, und es handelt davon, wie obdachlos Gewordene unter den Brückenbögen davon träumen, ein eigenes Heim zu haben. Das Original stammt von Flanagan & Allen und ist auf YouTube zu sehen. Die Melodie dieses Liedes ist zärtlich, sanft, steht in offenem Widerspruch zu der Erbärmlichkeit der Situation – man schläft auf Pflastersteinen und im Regen, wünscht sich aus der Nacht, sehnt sich den Tag herbei – das ist gesungene Wärme und Solidarität trotz widrigster Umstände.
Mr. Gilbert Prousch und Mr. George Passmore fanden sich in diesem Auftritt von Flanagan & Allan. Sie hatten sich 1967 an der St. Martins School of Art kennen gelernt, an der sie Bildhauerei studierten. Aber mit dem Studienbetrieb und den Erwartungen, die an sie gerichtet wurden, waren sie nicht zufrieden. In einem Interview sagen sie, die Kunst damals sei inhaltsleer gewesen, hatte nichts Menschliches, bestand nur aus Form. Das mochten sie nicht und deklarierten sich als eigene Skulptur, als »Living Sculpture«. Was dann logischerweise zu dieser Doppelbödigkeit führte: »Wir waren die Skulptur UND der Bildhauer«.
Aus der »Living Sculpture« verwandelten sie sich für diesen einen Auftritt in eine »Singing Sculpture«. Sie sangen in feinen Anzügen und mit bemalten Gesichtern im Versammlungsraum der Kunstakademie. Das muss so im Jahr 1972 gewesen sein. Es verankert sie in ihren politischen Horizont, den sie seitdem nicht mehr verließen, und der ist, wie könnte das anders sein, Anti-Establishment. Und es verankert sie auch in ihrer Kunstform: Sie selbst sind Kunst, durchlässig für die Einflüsse, Zumutungen, die Schönheit der Zeit. Das ist nicht »Street fighting man« und doch im demselben Zeitgeist zuhause. Nur halt auf eine andere Art.
Über fünfzig Jahre also ist es her, dass sich diese mittlerweile zierlich gewordenen ergrauten Männer trafen und ihr Leben und sich selbst zur Kunst erklärten. Sie kamen vom Land, sie waren homosexuell, was in England bis 1967 unter Strafe stand. Sie lernten die vielen Stadtteile Londons auf ihren Spaziergängen kennen, die armen und die feinen, die runtergekommenen und die herausgeputzten, die große Vielfalt, aus der sich die Stadt damals zusammensetzte.
Eingerichtet haben sie sich im Stadtteil Spitalfields – das, wie man liest – ein ärmliches Arbeiterviertel ist und heute bekannt für seinen Bangladesh-Straßenmarkt (und Gilbert & George natürlich). Ihr Haus ist auch ihr Atelier, aber keinesfalls ihr Speisezimmer; zum Essen gehen sie aus, in die kleinen Restaurants im neighbourhood, zum Beispiel zum Frühstücksbesuch ins Café Jeffs in der Brune Street, wie man dem opulenten Katalog entnehmen kann, fein und schick in ihren Tweedanzügen. So lieb sehen sie aus. Aber sie können schon mehr als nur ein Wässerchen trüben.

Die »Great Exhibition«, die bis zum 5. September in der Schirn zu sehen ist, tourte bereits durch Arles, Stockholm, Oslo, Reykjavik und Zürich. Die Künstler persönlich sind für die Hängung der Bilder – auch hier – verantwortlich.
In ihren Kunstwerken kann man lesen wie in Manifesten. Das erste, auf das das Auge des Betrachters beim Betreten der Ausstellung fällt, ist ein großformatiges Werk aus dem Jahr 1977, das noch nicht so bunt ist wie die anderen und aus mehreren Bildern und Fotografien zusammen gesetzt ist. Es zeigt die beiden getrennt voneinander in ihren »responibility suits« auf der Silhouette Londons stehen. Das Motto steht obendrüber: »Queer«. »Queer« zeigt bereits die Rasterung, die in nahezu allen Formaten über die Jahrzehnte hinweg beibehalten wird. Diese strenge Form erinnert an Triptychons, an Altarbilder, sie hält aufs Heiligste zusammen, was an Obszönitäten und auch ganz Unverfänglichem ins Kunstwerk gebannt wurde. Die Inhalte nähren sich aus den drei Energien, die das Leben bestimmen, dem Geist, der Seele und dem Geschlecht – laut Gilbert & George.
Unter der popbunten Gestaltung der wandfüllenden Arbeiten lagern gesellschaftliche Themen wie Unterdrückung, Missbrauch und Sexualität in doppelbödiger Chiffrierung, wenn zum Beispiel zwischen Schwarzweißfotografien von jungen Männern bunte Kreuze regnen, in denen geöffnete Hosenställe zu sehen sind, von Gilbert & George aus himmlischer Perspektive betrachtet. »Young Faith« heißt das 1977 entstandene Werk. Oder »Akimbo« von 2005 mit religiösen Symbolen und zwei grinsenden Teufelskobolden ums Kreuz. Die beiden feinen älteren Herren sieht man schemenhaft in der Akimbo-Position; die Hände in die Hüften gestemmt. Ihre jüngsten Werke atmen schon ein wenig Vergänglichkeit, »dead flowers«, »Darwin Day«.
In Abwendung von den Strömungen der kontemporären Kunstsprache formulieren sie stets ihre eigene, aufgeladen mit Symbolismus und Surrealismus. Nie sind sie abstrakt. Immer sind sie wiederzuerkennen. Oft finden sich Fotos von ihren Londoner Spaziergängen in den Bildern, Graffiti, Straßenschilder, aber auch Zeitungsanzeigen.
Doch egal, welche der 46 Collagen man betrachtet, jede hat erst einmal eine sattfarbene Oberfläche, unter der unzählige Bezüge lodern, eine Einladung an die Assoziation. Bis auf die frühen vielleicht: »Bum hole« ist das was es ist, und zwar eine Fotografie von den dem Betrachter entgegengereckten bum holes und Pobacken der beiden Protagonisten.
Da passt auch der Abgesang: zum Schluss haben sie in der Rotunde eine Fuckology erstellt.

Susanne Asal (Foto: Gilbert & George, 2015, © Tom Oldham)
Bis zum 5. September, weitere Informationen und Materialien zur Ausstellung unter www.schirn.de

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