Zu den stärksten Vater-Sohn-Filmen gehören auch diejenigen, die gar nicht explizit von einem Vater und seinem Sohn erzählen. So las in Jaco van Dormaels »Am achten Tag« ein rastloser Geschäftsmann einen jungen Mann mit Down-Syndrom auf, nachdem er ihn beinahe überfahren hätte. Bei ihm konnte er die väterliche Rolle übernehmen, die ihn in seiner eigenen Familie überfordert hatte. In »The Holdovers« geht es vordergründig um eine Lehrer-Schüler-Beziehung. Dass der Lehrer eine schmerzliche Leerstelle bei seinem Schüler ausfüllen würde, hätte man zu Beginn nicht vermutet.
Für die Rolle des unbeliebten Pädagogen konnte Regisseur Alexander Payne einen alten Bekannten gewinnen, mit dem er nach eigenem Bekunden schon lange hatte wieder arbeiten wollen: Paul Giamatti, der in Paynes Meisterwerk »Sideways« den herrlich erstaunt dreinblickenden Begleiter seines Freundes bei einer Reise durch kalifornische Weingüter abgab.
Paul Hunham lebt mehr in der Zeit der Peloponnesischen Kriege als in der Gegenwart. Da ist es kein Wunder, dass er seine Schüler, die kurz vor dem Abschluss in einem kleinen US-Internat stehen, für hoffnungslose Fälle hält, obwohl sie in jungen Jahren bestimmt einen Spitzenplatz in den aktuellen PISA-Studien eingenommen hätten. Nach heutigen Maßstäben wäre allerdings ein Mr Hunham in seinem Beruf völlig fehl am Platze. Ein Lehrer, der am laufenden Band schlechte Noten gibt und allgemein verhasst ist, könnte sich bald einen neuen Job suchen.
Aber wir befinden uns im Jahr 1970, als ein Lehrer noch eine Autorität war, die von seinen Schülern allenfalls durch kleine Widerspenstigkeiten infrage gestellt werden konnte. Hunham besaß sogar die Macht, den Sohn eines großzügigen Geldgebers durch schlechte Noten aus der Barton Academy zu verbannen. Dafür lässt ihn der genervte Direktor jetzt büßen, indem er ihn zum Babysitter für die Schüler bestimmt, die an Weihnachten nicht von ihren Eltern abgeholt werden. Schließlich sei er ja ohnehin ein Single ohne familiäre Verpflichtungen.
Ebenfalls im Internat bleibt die schwarze Köchin Mary Lamb (Da’Vine Joy Randolph als heiße Oscar-Kandidatin), die ihren Sohn im Vietnamkrieg verloren, aber ihren Optimismus behalten hat. Beide kümmern sich um eine kleine Schar unglücklicher Schüler, von der nach wenigen Tagen nur der ebenso begabte wie aufmüpfige Angus (Dominic Sessa) aus der Abgangsklasse übrig bleibt. Denn seine Mutter ist nicht erreichbar und kann die Einladung eines großzügigen Vaters, alle verwaisten Zöglinge mitzunehmen, deshalb nicht akzeptieren.
Nun ist die Frustration bei Angus und bei Mr Hunham groß. Und würde Mary nicht hin und wieder die Wogen glätten und besonders den mit antiken Weisheiten um sich werfenden Professor ermahnen, gäbe es kaum eine Chance für ein friedliches Weihnachten.
Dies gelingt nur durch eine langsam einsetzende Einsicht der Kontrahenten in ihre persönliche Lage. Angus ist im Leben seiner egoistischen Mutter ein Störfaktor und davon tief verletzt. Hunham hat seine Fähigkeiten nie befriedigend entfalten können, ertränkt die Enttäuschung darüber im Alkohol und sieht in den jungen Männern, die ihm anvertraut sind, die Versager von morgen.
»Erkenne dich selbst« steht nicht umsonst im griechischen Original und in Großbuchstaben oben an der Tafel in Hunhams Klasse. Alexander Payne hat aus dieser Weisheit eine Komödie nach einem Drehbuch von David Hemingson inszeniert. Payne, selbst Preisträger eines Drehbuch-Oscars für »Sideways«, hat das Potential dieses Stoffes erkannt, der ursprünglich für eine Serie vorgesehen war.
»The Holdovers« zählt für mich zu den großen Filmen der letzten Jahre, gleichermaßen witzig wie berührend. Hinzu kommt, dass neben den persönlichen Problemen immer wieder die hierarchische Gesellschaft um 1970 das Verhalten der Figuren beeinflusst. Das hat vor allem für Hunham Konsequenzen.
Am Ende wurde bei mir die Freude über dessen Möglichkeit, einen neuen Anfang zu wagen, von der Trauer überdeckt, dass Angus ihn als Ersatzvater viel zu kurz gehabt hatte. Man glaubt, im Kino etwas über fremde Personen und deren Schicksal zu erfahren, erfährt manchmal aber noch mehr über sich selbst.