Was es genau war, das da vorher passiert ist, werden wir nicht erfahren. Nur kann es nicht sehr lange her sein, dass hier eine Metropole, eine Gesellschaft oder gar die ganze Welt völlig aus den Fugen geraten ist. Die neue Regiearbeit von Linus König im Landungsbrücken-Theater katapultiert uns zum elektronisch verzerrten »Love Me Tender« in eine Postapokalypse der enthemmten Gewalt und des drogengetriebenen geistigen Siechtums.
Lichtkegel von Taschenlampen scheinen im vernebelten Dunkel auf, zwei Stimmen sind zu hören, von denen die eine sagt: »Steig über den toten Hund und dann links.« Die parkettweite Bühne, die uns Katja Quinkler (Kostüme, Ausstattung) vor dem hallendeckenhohen Vorhang aus Plastikfahnen gebaut hat, weist den Ort als eine verlassene Wohnbrache mit Möbelrudimenten aus, auch eine Badewanne steht kahl herum. Er wird die Location für jene Albtraumparty sein, in der Philip Ridleys Theaterdystopie »Mercury Fur« sich entlädt. Aber das kommt erst noch.
Mit »Mitunter ist Brutalität das einzige Mittel gegen Traurigsein« hat der Landungsbrücken-Chef seiner Adaption des 2005 uraufgeführten Stücks einen Titel verpasst, den man auch als Resümee eines so fesselnden wie schockierenden Theaterabends begreifen kann. In seinem Zentrum finden wir Ellis (Randi Rettel), der mit seinem rührend umsorgten kleinen Bruder Darren (Fee Binger), als Dealer und Event-Manager zu überleben versucht, indem er solchen, die es sich leisten können, ermöglicht, ihre »geilst-perversesten« Phantasien auszuleben – wie das der Partygast dieses Abends, ein psychopathischer Exsoldat (Jochen Döring at his best), formuliert, dem Ellis ein menschliches Partypac (Christian Orth) geschnürt hat. Eine Wucht ist der ohne Umweg ins Herz des Stücks führende rasende Einstiegsdialog von Rettel und Binger. Mit dabei sind außerdem der junge Stadtstreuner Nadz (großartig, Gregor Andreska), die traumatisierte »Fürstin« (Melina Hepp), der Auftraggeber Spinx (Silvana Morabito) und die Transe und Ellis-Freundin Lola (Katharina Wiedenhofer).
Jede Figur, die Ridley in die Handlung einführt, weitet den Blick auf die nicht weit zurück liegende Katastrophe und offenbart zugleich, was es bedeutet, wenn eine Gesellschaft mit ihren Erinnerungen auch die Sprache und Kommunikationsfähigkeit verliert. In einer Kostüm und Sprechorgie, die sich weitestgehend an die textliche Vorlage hält und mit sechs Frauen im Zentrum kreuz und quer durch die Rollen gendert, zeigt der famose Bunch aus der Freien Szene aber auch, wie unter den sichsehr nahe geratenden und stehenden Personen auch das Bedürfnis nach einem Gegenentwurf formuliert. .
König gelingt ein durch und durch unbequemer, aber stimmiger Wurf, der gekonnt mit den Erwartungen des Publikums spielt, wenn er für einige Momente eine Wendung zum Melodram aufleuchten lässt, um sie auf einem ziemlich struppigen musikalischen Klangteppich umgehend ad absurdum zu führen. There is no time für circumlocutions, meinte schon Lou Reed.