Das Königsbrünnchen im Frankfurter Stadtwald ist ein lieblicher Ort. Mit der Idylle ist es gleichwohl nichts, donnern doch die Flugzeuge im steten Takt über die Baumwipfel hinweg. Und natürlich wissen wir, dass der größte Teil der Bäume krank ist. Der Wald als Projektionsfläche für die Deutsche Romantik, da gibt der Stadtwald mit einer ganzen Menge wunderbarer Orte, wie unter anderem dem Jacobiweiher, an dem dieser Theaterspaziergang des Theaters Willy Praml enden wird, einiges her. Innerlichkeit in der Einflugschneise des Flughafens indes … Aber gerade die lärmende Präsenz der fatalen Seite der Moderne stellt eben auch ein Spannungsmoment dar.
Straßenbahnhaltestelle Oberschweinstiege, der Treffpunkt. Ein nicht besetztes Rednerpult steht auf dem Bahnsteig, aus einem darin verborgenen Lautsprecher klingen Worte aus der Rede um »Deutschland und die Deutschen«, die der zum amerikanischen Staatsbürger gewordene Emigrant Thomas Mann am 29. Mai 1945 in der Library of Congress in Washington gehalten hat – in seiner Rolle als »Stimme eines besseren Deutschlands«. Die Beziehung der Deutschen zum Faustischen spielt eine prominente Rolle in Manns unter dem Eindruck der Erschütterung durch die kollektive Barbarei im Zeichen des Nationalsozialismus entstandenem Rekurs auf die Geistes- und Befindlichkeitsgeschichte der Deutschen. Diesen Text bringt das Theater mit Szenen aus Goethes »Faust I« zusammen.
Von Anfang an sind bestimmte Charakteristika einer speziellen Praml-Ästhetik zu erkennen. An der Haltestelle greift das mit einer Bahn angekommene Ensemble aus sechs Schauspieler*innen in histomodern verschnittenen Kostümen von Paula Kern – zwei Mephistos, Anna Staab und Jakob Gail, zwei Fauste, Birgit Heuser und Reinhold Behling, zwei Gretchen, Hannah Bröder und Muawia Harb – Worte aus der Rede chorisch auf, nach Art einer Sprechpartitur. Alle zusammen richten sie die Blicke nach einem den Spielfluss unterbrechenden Flugzeug, sie schauen einer einfahrenden Bahn entgegen und der ausfahrenden hinterher.
Der Freiheitsbegriff der Deutschen, so Thomas Manns Befund, ist ein völkischer. Mit dem Resultat eines »Gedankens der Versklavung« anderer Völker – durch ein unfreies Volk. Dem (anders als den Franzosen) die Erfahrung einer erfolgreichen Revolution fehlt. Unter Station um Station wechselnden Naturkulissen findet die Inszenierung assoziativ pointierte Bilder zu der unvermindert der Beschäftigung werten Auseinandersetzung Manns mit dem Verhältnis der Deutschen zu Demokratie und Obrigkeit, in analytischer Reflexion von Luther, Idealismus, Aufklärung und Romantik. Das Ensemble stellt sich als eine stilisierte Komödiantentruppe dar. Es ist ein »ernstes« Fundament, auf dem sie agiert, an Humor freilich mangelt es nicht. Herrlich die markierte Derbheit, mit der die Fauste und Mephistos in der Szene in Auerbachs Keller am Königsbrünnchen schaumsprühend eine Kiste Bier leeren. So lustig das ist, ein schnöder Gag ist es nicht. Großartig entwickelt ist das Komische auch in einem Bild um »Politik: Wald und Höhle« mit den beiden wild mit dem Beil herumfuchtelnden Fausten.
Mit der Biografie von Thomas Mann verbunden ist eine Vorgeschichte als politischer Geisterfahrer; ein Hinweis darauf hätte dem ansonsten instruktiven Programmheft gut angestanden. Zunächst ist Mann ein im Bürgertum verhafteter Verfechter des wilhelminischen Obrigkeitsstaates gewesen; zu Beginn des ersten der beiden von Deutschland ausgegangenen Weltkriege hat er, gleich Hauptmann und Rilke, in den nationalen Jubel eingestimmt; den Krieg hat er als »Reinigung« und »Befreiung« apostrophiert.
Der von Willy Praml (er gibt Thomas Mann die Stimme) entwickelte, vom Expressionismus wesentlich geprägte »Stil des Hauses«, der den Regiewechsel vor ein paar Jahren vom greisen Gründer zum Mitgründer Michael Weber bruchlos überdauert hat, erweist sich auch nach Jahrzehnten noch als unvermindert belastbar. Nicht die Spur eines Gefühls der ästhetischen Selbstwiederholung hinterlässt Michael Webers Inszenierung. Ein exzeptioneller sinnlich-intellektueller Genuss.
Theater Willy Praml lädt mit »Deutschwald im Herbst« in den Stadtwald
