Theater Landungsbrücken überrascht mit dem Glückstück »Zeitkapseln«

Es ist nicht alles Gold, was glänzt. Und es ist nicht alles Glück, das aus der Vergangenheit leuchtet – dies schonmal vorweg. Nur, ganz so simpel ist es nicht und wird es auch nicht. »Zeitkapseln« ist eine Stückentwicklung, die der in Frankfurt lebende Regisseur Angel Krastev mit den Schauspielerinnen Lina Habicht und Marlene-Sophie Haagen für das Theater Landungsbrücken auf der fast leeren Parkettbühne des Hauses vor nackter weißer Wand realisiert hat. Zwei randständige Behelfstische, auf denen vorne rechts ein Monitor und hinten links eine Mikrowelle mit Silberschüsseln stehen, bilden den Rahmen für die in schwarzen Hosen und ebensolchen Satinblusen (Bühne, Kostüme: Loriana Casagrande) uns mit »Willkommen im Seminar« begrüßenden Referentinnen von »Resonare«. Letzteres ist ein Unternehmen, das sein Geld mit Glückstherapien macht, die aus der Demenzforschung resultieren, und das entsprechend bewirbt: »Jeder hat das Recht auf die Erinnerung an Glück« lautet sein Slogan.
Wie Resonare dahin kam, verschüttetes Glück zu bergen, das demonstrieren Habicht und Haagen mimend, tanzend und singend in träumerischen kleinen Fallstudien: die Frau, die beim Kinderchoral von der kleinen weißen Friedenstaube ihr Blumenkleidchen erinnert; den Mann, der aus einer Liebesbegegnung nur noch die wohlige Berührung memoriert. Mit theatralischem Re-Enactment wird Erinnerung jenseits des kognitiven Instrumentariums geweckt, wie uns der zugeschaltete Chef von Resonare mit hessischem Idiom fachmännisch kommentiert. Reaching out, touching you, touching me.
Immer mehr brechen auch eigene Beobachtungen und Gedanken der beiden Frauen in den Vortrag ein, verdankt Marlene ihren Namen doch der abgöttischen Verehrung der großen Dietrich durch ihre Mama. Mit gutturaler Stimme gibt Lina Habicht Dietrichs »Was ich dir einmal sagen wollte« zum Besten, um – von ihren Gefühlen überwältigt, gänzlich in sich zusammenzusacken. Was – by the way – die bis zur vergangenen Spielzeit zum Ensemble des Wiesbadener Staatstheaters gehörenden Aktrice nachgerade großartig macht.
Aus dem Seminar aber ist eine Bühne geworden, auch wenn der Dialog aufrechterhalten wird und das Publikum mit einem selbstgebackenen Teig aus besagter Mikrowelle eine wahrhafte Kostprobe des Erinnerns zum Probieren kriegt. Einmal mehr weiß der Körper mehr als der Kopf. Eine Erkenntnis, die das Unternehmen zur nächsten Stufe bringt, auf der es für seine Klientel Lebensräume kreiert, die ganzheitliches Eintauchen in die Erinnerung ermöglichen, sprich: in das Jahrzehnt der glücklich erinnerten Kindheit zurückzukehren, sei es das mit Wim Thoelke, Drehscheiben-Telefon und Nierentischen; oder jenes fernere mit Volksempfänger und Graupensuppe. Ein Angebot, das auch das Umfeld der Klienten begeistert, und das von Resonare bald zum Geschäftsmodell für alle aufbereitet wird.
Eine Wende mit einem Kippmoment, der uns im Nu in die Gegenwart katapultiert. Wo Zukunft nur noch in Dystopien vorstellbar ist, droht Vergangenes fern von nostalgischer Schwärmerei zur gesellschaftlichen Utopie zu werden. Oder wenn man so will: zur Alternative nicht nur für Deutschland.
Und während uns auf dem Weg in die Wohlfühlzone noch Neil Diamonds euphorisierender Caroline-Song immer lauter einnimmt, marschiert Marlene-Sophie Haagen die Fronten des Spiel-Carrés mit einer flatternden schwarzen Flagge auf der Schulter ab, mit dem Emblem eines weißen Kreises mit einem nach links-, also rückwärts weisenden Pfeil. Eine Stimme aus dem Off setzt den Trip ins Gestern mit deren traumatischer Vollrealisierung fort, als gelte es, ein ganzes Land zu therapieren – mehr sei hier nicht verraten über den frappierenden Schluss dieser Glücksgräberstory im Gebirge des Gestern.
Inspiriert von dem mit dem Booker-Preis 2023 ausgezeichnetem Roman »Zeitzuflucht« des bulgarischen Autors Georgi Gospidonov haben Krastev, Haagen und Habicht ein spannendes Stück Theater geschaffen, das trotz des Eindrucks, nicht ganz reif, nicht ganz ausinszeniert zu sein, unbedingt zu empfehlen ist. Es berührt, verführt, unterhält, verzaubert und ernüchtert dank des virtuosen Spiels der beiden starken Darstellerinnen. Und es ist ein Stück, das viel zu denken gibt, wie allen Rezensionen zufolge wohl auch seine hochkomplexe literarische Vorlage.

Winnie Geipert / Foto: Jessica Schäfer
Termine: 4. Oktober, 20 Uhr
www.landungsbruecken.org

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