Mehr als gelungen
Es gibt ja nicht nur die Unterscheidung zwischen guten und, nun ja, nicht so guten Filmen, sondern vielleicht auch eine zwischen Filmen, die für sich genommen gelungen sind, und anderen, die man mit dem altmodischen Begriff »wegweisend« belegen kann, also Filme, die den Weg aus Bilderfallen, Konventionen und künstlerischen Sackgassen weisen. Christian Petzolds Film »Transit« ist ein wegweisender Film. Wie derzeit vielleicht sonst nur Valeska Grisebachs »Western« zeigt er, wo es langgehen kann, wenn es darum geht, zugleich den poetischen Zauber und den aufrechten Realismus des Kinos voranzubringen.
»Transit« ist eine freie Bearbeitung des gleichnamigen Romans von Anna Seghers, und der hat es schon in sich. Denn er ist nur auf der ersten Ebene ein autobiographischer Bericht über seltsame Zwischenstation von Warten, von Hoffen und Angst, von Erinnerung und Phantasma, auf der Flucht, dann aber, vielleicht beim zweiten und dritten Lesen (und Christian Petzold betont, dass er und sein Schreibpartner Harun Farocki den Roman wieder und wieder gelesen haben), offenbart er immer wieder neue Facetten, und am Ende geht’s um eine mehrperspektivische Annäherung an die Frage aller Fragen, nämlich was das Menschsein eigentlich ausmacht.
Die Geschichte an der Oberfläche ist denkbar einfach: Georg entkommt im Jahr 1940 den deutschen Truppen und gelangt nach Marseille, wo er sich mit Hilfe der Hinterlassenschaft eines Schriftstellers, der sich das Leben genommen hat, eine Zwischen-Identität verschafft (ein Gespenster-Dasein von Da-Sein und doch nicht Da-Sein, wie es so viele im Werk dieses Regisseurs gibt). Hier dreht sich alles um Visa und vor allem um Transit-Visa, das heißt amtliche Erlaubnis für den Zwischenaufenthalt in einem Land, in dem Schiffe Station machen, mit der Versicherung, dort nicht zu bleiben. Nicht nur in Marseille, sondern beinahe überall auf der Welt, sind die Flüchtenden nur willkommen, wenn sie sofort wieder verschwinden. Georg freundet sich mit dem kleinen Jungen Driss an, dem Sohn eines gestorbenen Fluchtkameraden, und er verliebt sich in Marie, die Frau des Schriftstellers und Geliebte des Arztes, der Driss behandelt. Geht es um Gefühle oder um Berechnung, versucht man sich gegenseitig auszubeuten oder einander Halt zu geben? Man soll es sich nicht zu einfach machen, mit diesen Fragen, aber ohne allzu viel zu verraten: Christian Petzolds Film hat ein glückliches Ende, was natürlich nicht mit einem Happy End zu verwechseln ist.
Dass dieser Film wegweisend ist, hat mit den grandiosen Leistungen aller Beteiligten zu tun, von den Schauspielern über Kamera und Montage bis zum Detail von Ausstattung und Set-Bestimmung. Euphorisch könnte man sagen: Hier stimmt einfach jeder Lichteinfall und jedes darin sichtbare Staubkorn. Es hat aber auch mit drei wichtigen künstlerischen Entscheidungen zu tun:
»Transit« ist kein Kostümfilm. Den Hintergrund bildet das heutige Marseille, auch die Polizei, die naturgemäß alle Flüchtende dieser Welt in Panik versetzt, ist die Polizei von heute. Gleichwohl geht es nicht um eine blanke »Aktualisierung«, und schon gar nicht um jene Entzeitlichung, die es im postmodernen Film gibt. (Franz Rogowski, der Darsteller des Georg, bestand zu Recht darauf, dass man aus einem kleinen Cafe den Flipper-Automaten entfernte, der auf eine bestimmte Zeit verweist.) Es ist vielmehr eine Situation der »Geschichtsstille«, wie es Petzold, Georg K. Glaser zitierend, nennt. Eine Situation, in der das Vorher und das Danach so entrückt sind, dass alles Gegenwärtige eine fast unerträgliche, aber auch wieder berauschende Intensität erhält.
Petzold hat auch der Versuchung widerstanden, den historischen Stoff in direkte Beziehung zum Flüchtlingsleid der Gegenwart zu setzen. Wir sehen keine realen Flüchtlingscamps, bekommen keine diesbezüglichen Nachrichten. Der Bezug zur Gegenwart ist viel subtiler, zugleich dringlicher. Man denkt hier nicht an Flüchtende, man denkt als Flüchtender.
Und schließlich wurde auch einer dritten Versuchung widerstanden, nämlich der von Metapher und Farce. Jeder Augenblick macht deutlich, dass es hier nicht um Figuren geht, sondern um Menschen, wenngleich um Menschen, die nicht auf die gewohnte cineastische Weise sie selber sind. Christian Petzolds Kino ist eines der Blicke, nicht der Berührungen; Berührungen (auch sie gibt es natürlich in »Transit«) sind unwiderruflich und historisch, Blicke aber bleiben offen, enthalten alle Widersprüche, auch jene Erkenntnisse, die mit der Berührung wieder verloren gehen. Auf dieses Kino der Blicke muss man sich einlassen, dann wird auch das Kino zu einem Transit-Raum. Zu einem Raum der Geschichtsstille zwischen Gestern und Morgen, der Intensität und, wer weiß, der Veränderung.