Unter falscher Flagge
»Mutter!«, »Christina!« Der Name der alten Dame, die am Schwarzfilm-Anfang gerufen wird, prägt sich dem Zuschauer ein. Wenn es nichts zu sehen gibt, hört man umso intensiver. Christinas erwachsener Sohn steht vor der Tür, abfahrbereit. Es soll in den Norden Schwedens gehen, zur Beerdigung von seiner Tante, Christinas Schwester.
Doch Christina, eindringlich gespielt von Maj-Doris Rimpi, sträubt sich. Ein mächtiger Widerwille, der von einem unterdrückten schlechten Gewissen stammen könnte, ist ihr ins Gesicht geschrieben. Misstrauisch wird sie während der Andacht in der Kirche gemustert. Man hat sie nicht vergessen im hohen Norden – und hat ihr nicht verziehen, so wie sie ihnen nicht verziehen hat. Was in der Vergangenheit passiert ist, wird in einer langen Rückblende erzählt.
Sie handelt von zwei jungen Mädchen, Elle Marja (Lene Cecilia Sparrok) und Njenna (Mia Erika Sparrok), die sich ziemlich ähnlich sehen, aber ziemlich verschieden in ihrem Charakter sind. Die schüchterne Njenna versteckt sich gern hinter ihrer Schwester, Elle Marja lernt zwar fleißig schwedische Texte, aber mehr aus Trotz. Die Sprache der Ureinwohner ist hingegen tabu in der Schule. Wer sie spricht, bekommt Schläge auf den Handrücken.
An ihrer traditionellen Kleidung sind die Rentierzüchter gut erkennbar, doch die schwedischen Ärzte suchen mit Schädelmessungen und Nacktfotos auch nach ethnischen Unterschieden. Lappland, ein Reservat: weiterführende Schulen im fernen Uppsala sind für die samischen Kinder nicht vorgesehen. »Deine Familie braucht dich«, sagt die schwedische Lehrerin zu Elle Marja, als diese sie bittet, einen Brief an die zuständige Stelle zu schreiben. Und wir wollen dich nicht bei uns haben, hätte sie auch hinzufügen können. Elle Marja soll gefälligst bei ihren Rentieren bleiben. Und wie die Rentiere, die mit einem abgeschnittenen Stück von ihrem Ohr markiert werden, bekommt das Mädchen bei einer handgreiflichen Auseinandersetzung mit schwedischen Jungen ins Ohr geschnitten.
Also ergreift Elle Marja die Initiative, zieht ihre Tracht aus, ein Kleid an und geht auf eine Tanzveranstaltung. Christina ist geboren. Diesen Namen nennt sie dem sympathischen Niklas (Julius Fleischanderl) aus Uppsala. Sie verlieben sich ineinander, und Niklas lädt sie in sein Elternhaus ein, was sie zum Weg- und Überlaufen ermuntert. Auf der Zugfahrt entwendet sie einer schlafenden Mitreisenden den Koffer, und in Uppsala beginnt sie unter falscher Flagge ein neues Leben.
Die in Nordschweden geborene Filmemacherin Amanda Kernell hat bereits den mehrfach prämierten Kurzfilm »Stoerre Vaerie« (Northern Great Mountain) zum selben Thema auch mit Maj Doris Rimpi inszeniert. Ihrem Langfilmdebüt »Das Mädchen aus dem Norden« sieht man die eigene Erfahrung an – nur kleine Schwächen, was die Spielfilmlänge betrifft. So ist ihr die Uppsala-Sequenz etwas zu knapp geraten, da bleibt einiges im Dunkeln. Und wie aus der pummeligen kleinen Elle Marja die hagere alte Christina werden konnte, bleibt Kernells Geheimnis.
Doch die Vorzüge überwiegen. In stimmungsvollen Bildern schildert die Regisseurin die Adoleszenz ihrer Hauptfigur. Wie die sich von ihrer Mutter und ihrer Schwester losreißt, um ihren eigenen Weg zu verfolgen, ist herzzerreißend. Nachvollziehbar, wie aus einem zurückhaltenden Mädchen eine auch berechnende junge Frau wird.
In der kleinen Norwegerin Lene Cecilia Sparrok hat die Regisseurin die ideale Darstellerin gefunden, von der man noch ein paar Filmauftritte erwarten darf. Das Schicksal der Samen, die sich in ihrem eigenen Lappland von abschätzig behandelten Außenseitern zur bestaunten Touristenattraktion entwickelt haben, betrachtet sie mit Wehmut. Der Weg aus ihrem Reservat dürfte heute einfacher sein. Aber um ihre Kultur zu erhalten, bedarf es der Akzeptanz der anderen.