»Treasure – Familie ist ein fremdes Land« von Julia von Heinz

Als der Holocaust-Überlebende Edek Rothwax im Jahr 1991 am Warschauer Flughafen ankommt, hat seine 36-jährige Tochter Ruth schon einige Zeit auf ihn gewartet. Denn den gemeinsamen Flug aus New York hat er verpasst, weil er noch schnell einen Hamburger verspeisen musste. Ein deutliches Zeichen, dass er keine Lust auf die Reise hat, die Ruth mit ihm unternehmen will. Sie wünscht mehr über ihre Familie und das Geschehen im von deutschen Truppen besetzten Polen zu erfahren.

Die Nazis und der Holocaust gehören der Vergangenheit an, und da sollen sie auch bleiben, ist Papas Devise. Er ist froh, dass er Verfolgung und Todesdrohung überlebt hat, und will sich seine gute Laune nicht verderben lassen. Stephen Fry gibt ihn in modernisierter Emil-Jannings-Manier, jovial auf die Einheimischen zugehend, deren Sprache er im Gegensatz zu seiner Tochter fließend beherrscht. Wenn er auch schnell mit Fremden Freundschaft schließt, bleibt er misstrauisch und lässt von der Tochter abends das Hotelzimmer abschließen.
Wie eine typische amerikanische Touristin verhält sich dagegen Ruth, die von der Autorin, Schauspielerin und Filmemacherin (einige Folgen von »Girls«) Lena Dunham gespielt wird. Sie lebt als Musikjournalistin in New York, was der Vater immer wieder stolz zum Besten gibt. Nach einer Scheidung und dem Tod ihrer Mutter (offenbar Edeks zweite Frau) will sie jetzt das Familienvermächtnis des Vaters erkunden.
Der versucht hingegen, eine möglichst angenehme Zeit mit seiner Tochter zu verbringen, und von diesem Gegensatz bezieht der Film Dynamik und Witz. Taxi statt Eisenbahn – Mercedes mag Edek, die Deutschen nicht – und nur in den besten Hotelzimmern will er wohnen. Dass in Warschau das jüdische Ghetto nicht mehr existiert, das er ihr zeigen will, bedrückt ihn nur kurz. Wenn die Ghettomauer nicht mehr steht, muss eben irgend eine andere als Hintergrund für das Erinnerungsfoto herhalten.
Immerhin finden sie in Lodz das Haus, in dem die Familie gewohnt hat. Die jetzigen Mieter behaupten, dass deren große Wohnung im Krieg ausgeräumt war, als sie eingezogen sind, servieren aber den Tee aus dem alten Familienporzellan. Als Ruth noch einmal nur mit Dolmetscher hingeht, kauft sie das komplette Service. Zum Ärger ihres Vaters, der findet, dass die kinderreiche polnische Familie das Geschirr mehr benötigt als die allein lebende Ruth, die er oft ironisch Pumpkin nennt.
Zu Papas Vergangenheit gehört seine Zeit im Todeslager Auschwitz-Birkenau und so auch ein Besuch, den Edek zunächst für sich ablehnt. Als er dann doch mit Ruth hinfährt, entsteht die beste Szene des Films. Überlebende müssen nicht die Wege laufen, sondern werden von der Fremdenführerin herumgefahren. Edek korrigiert sogleich eine ihrer Erklärungen. Die Züge mit den todgeweihten Menschen fuhren nicht alle in das Lager, sondern hielten wegen ihrer schieren Menge auch davor. Edek entdeckt die Schienenreste an der Stelle, an der er seine Frau zum letzten Mal gesehen hatte. Da wird klar, warum er sich am Flughafen geweigert hat, in Polen mit der Eisenbahn zu fahren.
Diese Details – ein anderes war das Abschließen der Tür – machen die Qualität des Films von Julia von Heinz aus, den sie nach dem Roman »Zu viele Männer« von Lily Brett gedreht hat. Wer aber auf eine kritische Auseinandersetzung mit der aktuellen Erinnerungskultur gehofft hat, wird enttäuscht. Warum muss der tatsächlich vom Naziterror Betroffene am Ende seine Verdrängungshaltung aufgeben und mit seiner Tochter beim Betrachten der Erinnerungsstücke, die rechtzeitig vergraben worden waren, zu Tränen gerührt sein? Ist das für uns Nachgebore nötig? Edek muss auch das Recht behalten, das unfassbare Leid, das ihm und dem jüdischen Volk angetan worden ist, zu verdrängen.

Claus Wecker / Foto: © Lukasz Bak/Alamode Film
>>> TRAILER
Treasure – Familie ist ein fremdes Land (Treasure)
von Julia von Heinz, D/F 2024, 112 Min.
mit Lena Dunham, Stephen Fry, André Hennicke, Zbigniew Zamachowski, Tomasz Wlosok, Wenanty Nosul
Tragikomödie
Start: 12.09.2024

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