»Utama. Ein Leben in Würde« von Alejandro Loayza Grisi

Es grenzt an ein Wunder, dass dieses unscheinbare Meisterwerk, immerhin Gewinner des Großen Preises der Sundance-Jury, einen Kinostartplatz zwischen Blockbustern und hochsubventionierten deutschen Arthouse-Filmen gefunden hat. Zu verdanken ist das dem kleinen Göttinger Verleih Kairos, der uns vor einem Jahr mit dem wunderbaren »Luana – Das Glück liegt am Himalaya« über einen Referendar in einer der abgelegensten Schulen von Bhutan überrascht hat.

Einem alt gewordenen Ehepaar im bolivianischen Hochland der Anden einen Film zu widmen ist zunächst einmal eine originelle Idee. Mit ausschweifenden Dialogen dürften wir nicht behelligt werden. Virgino und Sisa haben dafür zu lange zusammengelebt, und aus dem nahegelegenen Dorf fällt nur wenig Nachbarschaftsklatsch an.
Seit Generationen wohnen die indigenen Aymara hier, doch jetzt wird die 3500 Meter über dem Meeresspiegel gelegene Hochebene, die von noch höheren Bergen eingefasst ist, immer unwirtlicher. Der jährliche Regen bleibt aus, der trockene Boden ist von Rissen durchzogen. Eine Familie nach der anderen gibt auf und zieht in die Hauptstadt La Paz. Nur der hochfliegende Andenkondor lässt sich noch blicken. Dass er sich vom Berg zu Tode stürzt, wenn ihn seine Kräfte verlassen, erzählt Virgino einmal.
Der Kondor scheint für ihn ein Vorbild zu sein. Denn Weggehen kommt nicht infrage, und er bestimmt, was gemacht wird. Schon zu Beginn des Films plagen ihn Hustenanfälle. Mit der Zeit werden sie heftiger, und der Abstand zwischen ihnen wird kürzer. Virgino spürt den Tod nahen. Dort, wo er Tag für Tag seine Lamaherde zum Weiden führt (wir fragen uns, wo die Tiere auf dem kargen Boden noch Futter finden), will er ihn empfangen.
Das erklärt er dem Enkel, der mit dem Moped zu Besuch gekommen ist und ihn auffordert, in die Stadt umzuziehen. Dort sei das Leben allgemein viel einfacher, behauptet Clever (!). Doch der Opa lässt sich nicht überzeugen. Es ist eine Familie der Dickschädel. Clevers Vater hat einst im Zorn seinen Erzeuger verlassen. Dass er jetzt seinen Sohn geschickt habe, ihn zu überreden, mutmaßt Virgino.
Zudem sei es eine Schande, dass er Spanisch mit ihm sprechen müsse, weil er das Quechua seiner Vorfahren nicht verstehe. Da hilft es auch nicht, dass Clever am frühen Morgen mit dem Großvater und den Lamas zur Futtersuche aufbricht. Er beweist damit immerhin, dass ihn, den verwöhnten Städter, nicht nur der Eigennutz motiviert.
Allein Großmutter Sisa hat sich über Clevers Besuch gefreut. Über ihr von einem langen, mühsamen Leben gezeichnetes Gesicht legt sich ein schwacher Glanz, wenn sie ihn umarmt. Sie muss einen weiten Weg zurücklegen, um vom Fluss Wasser zu holen, weil der Brunnen im Dorf kein Wasser mehr hergibt. Und Sisa müht sich auch, zwischen den beiden Männern zu schlichten, wenn der Streit allzu heftig zu werden droht. Ihr verschweigt Virgino seinen ernsten Zustand, sogar als er unterwegs ohnmächtig geworden ist.
Als letzten Versuch holt Clever, der weiß, wie es um seinen Großvater steht, einen Arzt aus der Stadt. Der untersucht Virgino ziemlich oberflächlich und empfiehlt genauere Untersuchungen im Krankenhaus. Aber der Alte will unter gar keinen Umständen für eine zeitlich begrenzte Verlängerung seines Lebens ins Krankenhaus. Dann lieber früher sterben.
Diese Geschichte wirkt in den Händen des bolivianischen Regisseurs Alejandro Loayza Grisi und seiner Kamerafrau Bárbadra Álvarez so authentisch (um ausnahmsweise einmal das Modewort zu gebrauchen), dass wir zwischendurch glauben, einen Dokumentarfilm zu sehen. Doch im Nachspann erscheint eine Liste mit den Rollennamen und den zugehörigen (Laien-)Darstellern. José Calcina und Luisa Quispe, die beiden Alten, hat der Regisseur bei der Suche nach geeigneten Drehorten gefunden.
Alejandro Loayza Grisi hat als Fotograf und Kameramann begonnen und dann Dokumentarfilme gedreht. Seinen geübten Blick richtet er auf Menschen, die vom Klimawandel am stärksten betroffen sind, obwohl sie am wenigsten zu ihm beigetragen haben. Auch das ist eine Botschaft des Films.
Der Name des Verleihs ist übrigens ein griechisches Wort, das auf der letzten Silbe betont wird und soviel wie »richtiger Moment« bedeutet. Dies möge auch auf den Kinostart zutreffen.

Claus Wecker / Foto: © Kairos Filmverleih
UTAMA. EIN LEBEN IN WÜRDE
von Alejandro Loayza Grisi, BOL 2022, 87 Min.
mit José Calcina, Luisa Quispe, Santos Choque, Candelaria Quispe, Placide Ali, Félix Ticona
Drama
Start: 09.02.2023

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