»Vater – Otac« von Srdan Golubovic

Das osteuropäische Kino wartet immer wieder mit Überraschungen auf. Mit Geschichten von Menschen, die aus einer wohlbehüteten, kontrollierten Welt in eine postsozialistische gefallen sind, in der das Recht des Stärkeren regiert. Sie erzählen oft einfache Geschichten – von Menschen, die Gerechtigkeit suchen, wie einst Michael Kohlhaas. Filme, bei denen jedem klar wird, dass sie gemacht werden mussten. So ein Film ist »Vater« oder auf Serbisch »Otac« von Srdan Golubovic.

In Grab, einem kleinen Dorf, 300 Kilometer von Budapest entfernt, hat Nikola (Goran Bogdan) seinen Job verloren. Dass ihm obendrein der ausstehende Lohn vorenthalten wird, treibt seine verzweifelte Frau zu einer Wahnsinnstat. Sie nimmt ihre beiden Kinder, kommt an das Tor der Fabrik und verlangt den Manager zu sprechen. Als sie kein Gehör findet, überschüttet sie sich mit Benzin und zündet sich an. Der Brand wird sofort von Arbeitern erstickt, die Mutter überlebt und landet im Krankenhaus.
Auf die Kinder, die auch etwas Benzin abbekommen haben, springt das Feuer nicht über. Sie bleiben unverletzt, werden aber sofort an einen unbekannten Ort verbracht. Der herbeigerufene Nikola verlangt, dass sie wieder zu ihm nach Hause geholt werden. Er bringt sein Häuschen am Rande des Dorfes in Ordnung, sorgt für Wasser- und Stromanschluss.
Vergebens. Im Sozialamt herrscht der korrupte Vasiljevic (Boris Isacivic), der aus der Not armer Eltern ein Geschäft gemacht hat. Nach seiner Meinung ist es das Beste, wenn die Eltern, die ohnehin nicht für ihren Nachwuchs sorgen können, diesen einfach weggenommen bekommen. Besser situierte Pflegefamilien sollen sich um ihn kümmern, und der Amtsleiter kassiert von der staatlichen Unterstützung gleich 30 Prozent für sich selbst.
Das erfährt Nikola von einem Mitarbeiter, als er nach seiner fruchtlosen Beschwerde die Dienststelle nicht verlassen will und aus Protest im Flur sitzen bleibt. Natürlich gibt Vasiljevic dem beharrlichen Vater seine Kinder nicht zurück. Und Nikola ist nicht bereit, dies einfach hinzunehmen.
Er ist ein einfacher Mann. Seine ruhige Art dürfte zu seiner verfahrenen Familiensituation beigetragen haben. Schwer vorstellbar, dass er mit seiner Frau viel geredet hat. Von ihrer Verzweiflung war er schlicht überfordert. Aber er hat sich in den Kopf gesetzt, seine Kinder zurückzubekommen. Ein anderer Vater würde sich in einer E-Mail beim Ministerium beschweren. Nicht so Nikola.
Er beschließt, zu Fuß nach Belgrad zu gehen und dem zuständigen Minister persönlich eine Petition zu übergeben. Nikolas Fußmarsch wird zu einer Bestandsaufnahme des gegenwärtigen Serbiens. Er zieht durch eine trostlose Landschaft mit verfallenen Häusern und Industrieanlagen. Er wird unterwegs von der Polizei auf der Autobahn angehalten und zurück auf die Landstraße gebracht, übernachtet in einer verlassenen Tankstelle, wo er einen verwahrlosten Hund trifft, bekommt in einer anderen Tankstelle vom Nachtdiensttankwart eine Schlafstelle überlassen, wehrt den Raub seines Rucksacks ab, begegnet vier Wölfen, wird von einem religiösen Lastwagenfahrer mitgenommen und, in einer grandiosen Szene, von einem Schlepper, der eine Gruppe von Emigranten näher an die EU-Grenze bringt. Zwischendurch, als er mit Fieber und völlig erschöpft in einem Krankenhaus aufwacht, zweifelt man, ob er überhaupt lebend nach Belgrad kommt.
Regisseur Srdan Golubovic hat ein Roadmovie der besonderen Art gedreht. Nach dem schockierenden Beginn folgt er seinem Protagonisten unaufgeregt. Mit stoischer Gelassenheit, muss dieser erkennen, dass in dem Land jeder sich selbst der nächste ist. Sogar der Assistent des Ministers, den er am Ende sprechen kann, scheint gegen die allgemeine Korruption machtlos zu sein.
Das stimuliert das Mitgefühl der Zuschauer und hat damit dem Regisseur, seinem Film und dem grandiosen Hauptdarsteller neben dem Publikumspreis und dem Preis der Ökumenischen Jury in der Panorama-Sektion der Berlinale 2020 zu weltweiten Auszeichnungen verholfen.
»Vater – Otac« ist bei aller Mühsal, die Nikola zu durchleiden hat, nicht nur trostlos. Golubovics Film durchzieht eine leise Ironie, die am Ende in einer umwerfenden Pointe gipfelt.

Claus Wecker (Foto: © Barnsteiner Film)

VATER – OTAC
von Srdan Golubovic, SRB/HR/D/F 2020, 120 Min., mit Goran Bogdan, Boris Isakovic,
Nada Sargin, Milica Janevski, u.v.m.
Drama / Start: 02.12.2021

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert