Volksbühne: Kortmann & Konsorten bereiten Goethes »Werther« zeitgemäß auf

Eine bipolare Störung nennt man das wohl, an dem Johann Wolfgang Goethes in seinem Romandebut »Die Leiden des jungen Werthers« seinen Titelhelden zerbrechen lässt. Dass solche emotionale Achterbahnfahrten von der Euphorie in die Depression und zurück im Stadium der Adoleszenz nichts Ungewöhnliches sind, erklärt und nährt das Interesse an dem Briefroman des Dichterfürsten auch 250 Jahre nach seiner Erstfassung umso mehr, als sein junger Protagonist mit der Gesellschaft, in der er lebt, ziemlich auf Kriegsfuß steht. Und weil sich seine Angebetete als unerreichbar erweist. Wer kennt das nicht?
Auf den Bühnen der Region haben wir den Werther zuletzt in Mainz, sowie als hundertfach gespieltes Solo von Isaak Dentler am Schauspiel Frankfurt gesehen. Für die Volksbühne in unmittelbarer Nachbarschaft des Goethehauses, wo der 24jährige Johann Wolfgang ganze vier Wochen für die Niederschrift gebraucht haben will, zeigt das Theaterkollektiv Kortmann & Konsorten nun seine eigene dramatische Adaption der Leiden. Dazu stellt es dem von Sam Michelson verkörperten Jungjuristen in Marlene-Sophie Haagen nicht etwa eine Lotte, sondern ein streitbares Korrektiv zur Seite, das dessen exaltierte Wallungen immer wieder hinterfragt, kommentiert oder zu relativieren sucht. Zwei Seelen hat‘ er, ach – und später natürlich eine entsetzliche Lücke. Ganz in Schwarz gekleidet, mithin aus den Tiefen des Unbewussten, kommt diese innere Stimme daher, im strengen Kontrast zu dem bunt in den Werthertracht-Farben Gelb-Blau und roter Jogginghose auflaufenden Bühnenpartner.
Zuerst aber kündigt uns eine Intro-Potpourri im großen Bogen an, dass es Werthers zu allen Zeiten und in allen Sphären gab, gibt und geben wird: vom Eurovisions-Te Deum Charpentiers mit zu Star Wars, Harry Potter und der Tageschau. Im Promi-Fragebogen lässt uns der Held des Stückes sein Alter (20), seine Augenfarbe (braun), sein schönstes Erlebnis (der Tanz mit Lotte) und dergleichen, selbst sein Motto wissen: Lebe jeden Tag, als sei es dein Letzter – was nun weder im Werther steht, noch sonstwo bei Goethe, sondern eher von Lucia Primavera kommt, die für den Text verantwortlich zeichnet.
Ein cooler Typ mithin, dessen an seinen Freund gerichteten Briefen wir fortan in acht betitelten Passagen chronologisch folgen. Auf und nieder geht es mit ihm, Brief auf Brief, immer mit Datum im Rückraum projiziert, immer begleitet von seiner skeptischen Begleiterin und Musik aus allen Sparten. »Whole Again« von Atomic Kitten ist dabei, da hat er die Verlobte schon auf dem Tanzball kennengelernt. Wenig später trifft ihr Zukünftiger Albert ein, ein Ausbund an Tugend und – voll schlimm – kein bisschen bekümmert über den Nebenbuhler, was Werther natürlich trifft uns ins Dämliche driften lässt. Mit seinem Selbstwertgefühl zerbricht dann auch das Bühnenbild von Anna Hasche. Links kracht ein über der Szene hängendes schlafkissengroßes Stoffherz im Organformat auf das Parkett und entrollt dabei rote Bahnen, rechts zerlegt Michelson – out of control – den als Puzzle formierten mannshohen Würfelquader mit seinem Konterfei.
Sarah Kortmanns Inszenierung gelingt es nicht nur, Goethes Sprache in einen zeitgemäßen Rahmen wirkmächtig zum Ausdruck zu bringen, sondern das Stück auch trotz der bewusst gesetzten Distanz in Spannung zu halten. Ein Verdienst mithin auch des ungekünstelten Spiels von Haagen/Michelson. Verraten wird Goethes Text dadurch keineswegs, zumal der bemühte Ausflug ins Publikum und das recht alberne Happy Birthday kaum auf sein Konto gehen. Da wäre weniger – als 60 Minuten – mehr gewesen. Bei den Schülern aber kam das gut an. Die subtilen unter diesen werde das Klavierspiel aus Stromaes Suizid-Song »L‘enfer«, das zum Ende überleitet, zu deuten gewusst haben. Keines mit Knall, sondern mit einem auf nun verdunkelte Szene projizierten »Peng!«. Peng! liest man in Frankfurt an allen Ecken und Wänden – mit einem Lächeln.

Winnie Geipert / Foto: © Andreas Malkmus
Termine: 3. Februar, 19.30 Uhr; 18. Februar, 17 Uhr
www.volksbuehne.net

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