Warum nur, warum?

Staatstheater Mainz: »Woyzeck/Marie« – misslungene Interpretation eines Klassikers

Eigentlich ist die Geschichte von Woyzeck schnell und klar erzählt: ein armer Soldat, Vater eines unehelichen Kindes, schuftet bis zur Erschöpfung und darüber hinaus, um Mutter und Kind zu ernähren. Die Mutter, Marie, ist derweil unzufrieden, ist doch auch ihr Leben von Armut und Arbeit geprägt. Sie lässt sich auf ein Verhältnis mit dem Tambourmajor ein. Woyzeck erfährt dies durch subtile, gemeine Bemerkungen seiner Vorgesetzten. Nicht zuletzt aufgrund der Erbsendiät, die er für den Doktor zu Versuchszwecken durchführt, verliert er letztlich den Verstand und ersticht Marie. Übrig bleibt das Kind, dessen Leben schon jetzt dem Untergang geweiht ist. Wie soll der arme Wurm in dieser Welt ein besseres Leben haben? Die Hoffnungslosigkeit darauf spiegelt sich im Märchen der Großmutter, die »Sternthaler« erzählt, ihm aber jedwede positive Variante nimmt.
So weit, so gut. Büchner präsentiert uns Menschen, bringt sie uns durch die authentische Sprache nahe, lässt uns ihre Verzweiflung spüren, zeigt uns, dass wir dem Determinismus in dieser Gesellschaft nicht entkommen. Ein geniales Stück, das eigentlich keine Inszenierung mehr braucht. Der Text allein ist gewaltig genug.
Nun hat das Staatstheater Mainz Woyzeck auf die Bühne gebracht. Regie führt die junge Regisseurin Mirjam Loibl. Ihr Fokus liegt, glaubt man dem Titel, auf Marie, der Frauenfigur. Glaubt man dem Programmheft, so sind es die Arbeitsbedingungen in der Fleischfabrik von Clemens Tönnies. Sieht man sich die Inszenierung an, so sucht man vergeblich nach Büchners Woyzeck.
Die ersten 18 Minuten wird kein Text gesprochen. Die Figuren, die kaum zu identifizieren sind, tragen sie doch alle eine Schweinsmaske, bewegen sich in eigentümlichen, manchmal hektischen, manchmal sehr langsamen Bewegungen über die Bühne. Begleitet werden ihre Bewegungen von Musik. Die Tänzerin Amber Pansters entwickelte die Bewegungssprache der Schauspieler. Die Kostüme entwarf Anna Maria Schories, Komposition und Sounddesign stammen von Constantin John.
Die Bühne zeigt ein zweistöckiges Haus, an dessen Fassade diagonal zwei bewegliche Arme, wie Scherenschnitte angebracht sind. Ihnen wurden die Namen der beiden Hauptcharaktere eintätowiert, sie bewegen sich immer wieder gegeneinander – wie Woyzeck und Marie, denen eine gemeinsame glückliche Zukunft nicht gegönnt ist. Die vier Räume sind leicht zu identifizieren. Unten rechts der Schlachtraum. Hier hängt eine halbe Sau, die während der gesamten Dauer des Stücks ausgeweidet wird. Es wird viel Blut verbraucht, das von Woyzeck (Daniel Mutlu) und Andres (Lennart Klappstein) schon während des Einlasses fleißig aufgewischt wird. Der fiese Doktor (Leandra Enders) sowie der Hauptmann (Denis Larisch) haben ihren Auftritt jeweils über der Schlachterei. Maries (Katharina Uhland) Refugium ist die linke Bühnenhälfte. Sie deckt, zusammen mit dem Tambourmajor (Benjamin Kaygun), in Dienstmädchenuniform im ersten Stock, neben dem Raum des Doktors, einen Tisch. Der Raum unter diesem Esszimmer ist weitgehend leer und symbolisiert wohl das Land, den See, an dem Woyzeck später seine Marie ersticht. Eigentlich ist das Bühnenbild von Thilo Ullrich also ansprechend und durchaus vielversprechend.
Als endlich die ersten Sätze fallen, kommen diese vom Band und es ist somit nicht nachvollziehbar, welche der kaum zu identifizierenden Figuren auf der Bühne spricht. Leider bleibt es auch so. Keiner der Protagonisten spricht, alles kommt vom Band, Büchners Text ist kaum wiederzuerkennen und teilweise auch verändert. Warum?
Warum versucht die junge Regisseurin krampfhaft einen immer aktuellen, brillanten Text zu zerpflücken, ihn zu verändern und zu aktualisieren? Das hat dieser Text nicht nötig und es funktioniert auch nicht. Die Umdeutung der Erbsendiät zu einer Gammelfleischdiät ist unnötig und ergibt keinen Sinn. Die wirr aneinandergefügten Fragmente vom Band fesseln nicht, ihre Wiederholung intensiviert nicht. Die 75 Minuten der Aufführung werden zur Qual.
Mit viel gutem Willen kann man darin die Qual der Arbeiter in der Fleischfabrik erkennen, ja, man mag sogar akzeptieren, dass das Elend der Arbeiter bei Tönnies dem Elend des Soldaten Woyzeck entspricht. Dazu muss man aber sehr wohlwollend sein und, ganz ehrlich, ein so wunderbares Werk wie den Woyzeck nicht neu erfinden. Das Thema, das sich Mirjam Loibl gesucht hat, ist es ganz sicher Wert, auf eine Bühne gebracht zu werden, nicht aber unter Missbrauch eines Textes von Büchner.

Johanna Martin / Foto: © Andreas Etter
Termine: 21. November, jeweils 19.30 Uhr (Einführung 18.45 Uhr)
www.staatstheater-mainz.com

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