Tanzmainz geht mit Moritz Ostruschnjak in den »Trailer-Park«

In Marburg geboren, in München lebend, aus der Sprayer- und Breakdance-Szene kommend und nach einer klassischen Ausbildung unter anderem vom französischen Tanzmeister Maurice Béjart tänzerisch feingeschliffen: Der Jung-Choreograf Moritz Ostruschnjak ist sowas von angesagt in der Tanz-Szene, dass tanzmainz-Chef Honne Dohrmann gar nicht umhin konnte, diesen Rising Star für sein längst tanzweltweitbekanntes Ensemble zu verpflichten. Die Gruppe agiert bekanntlich ohne feste choreografische Leitung und lässt sich auf immer wieder neue ästhetische Tanzhandschriften und ausschließlich Uraufführungen ein. Ein Konzept, das der mit 25 Aktiven größten Sparte des Mainzer Staatstheaters in den vergangenen sechs Jahren drei Mal den Theaterpreis Faust für die beste deutsche Tanzchoreografie bescherte: mit »Fall Seven Times« von Nader/Campos, mit Sharon Eyals »Soul Chain«, das gerade
in seine fünfte (!) Spielzeit geht, und zuletzt mit Rafaële Giovanolas »Sphynx«.
Den Stoff für den vielleicht nächsten Faust bezieht »tanzmainz« aus Social-Media-Kanälen des Internet. Ostruschnjak hat sein zehnköpfiges Tanzteam aufgefordert, sich aus dem riesigen Reservoir an digitalen Tanz- und Bewegungsmustern bei TikTok & Co. ganz nach Gusto Clips zur späteren Nachahmung auszusuchen. Dem ursprünglichen Kontext entrissen, bilden rund 600 dieser Mitschnitte das Material für »Trailer Park«, eine Collage, ein Puzzle, eine Replika aus Tanzstilen oder Moves sowie einer Unzahl von Gesten und Mimiken, die alle eines gemeinsam haben: nicht von Ostruschnjak und seiner Tanzgruppe kreiert worden zu sein. Damit folgt der Künstler nicht nur dem »Meme-ing«-Trend der Netz-Szene, sprich: mit vorgefundenen digitalen Inhalten eigene Botschaften zu basteln. Thema ist gewiss auch, dass immer mehr Zeichen, Gesten oder Verhaltensmuster den Weg aus dem Internet in den Alltag finden.
Im Trend sind wohl auch die sich auf coole Sport-Outfits kaprizierenden Kostüme von Daniela Bendini, wie sie zuletzt auch beim Debüt der Dresden Frankfurt Dance Company zu sehen waren. In Mainz zeigen die Trikots Labels und Logos von stylischen Marken wie Energy-Drinks. Unterlegt wird das Spiel von eingespielter Musik, die von mittelalterlichen Klängen bis zu Rap und Hip-Hop reicht und in einer Slow-Version nicht mal die Schlager-Ikone Roy Black auslässt. Im neuen Kontext klingt der 1965er Hit »Du bist nicht allein« jedenfalls tiefgründig.
Das Ergebnis ist ein Stück ganz nah am Puls der Zeit: eine aufregende, mitreißende Flut von Bildern, die das Ensemble mit hoher Präzision einzeln, zu zweit, zu dritt oder in der Gruppe und meist individuell in extenso produziert. Bis zur Erschöpfung, bis zum Limit werden Varianten des Urban Dance, wie Voguing oder Roboting und vieles mehr, dazu kleine Pantomimen, kodifizierte Fingerspiele in einer Fülle von oft nur Sekunden währenden Figuren, Grimassen und Verrenkungen präsentiert, darunter auch das unsägliche Love-U-Herz aus Daumen und Ringfinger. Unmöglich, alles wahrzunehmen. Im Kopf bleiben – was sonst? – die ruhigen Szenen, der einleitende Auftritt von Jaume Luque Parellada, der uns mit sich nur allmählich steigernden Bewegungen einstimmt auf das, was alles noch kommt. Faszinierend auch das mit den Füßen imitierte Hand-Begrüßungsritual durch Finn Lakeberg und Jaime Neves. Nachgerade rätselhaft die Szene, bei der zwei Spieler sich in einem Balanceakt auf schmalen Getränke-Büchsen niederlegen und »Somewhere over the Rainbow« singen. Nicht nötig, alles zu kapieren. Wo es kein richtiges Leben im falschen gibt, ist da auch die Kopie das Original?

Gisbert Gotthardt / Fotos: © Andreas Etter
Termine. 5., 6.Januar, jeweils 19.30 Uhr
www.staatstheater-mainz.com

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