Im Pub entscheidet sich alles: »The Old Oak« von Ken Loach

Im Nordosten Englands, wo die Kohleminen längst geschlossen sind, ist im Jahr 2016 aus einer einst prosperierenden Bergarbeitersiedlung ein Ort der Verlierer geworden. Ein Pub ist übrig geblieben als einziger öffentlicher Treffpunkt, in dem regelmäßig eine Gruppe von Rentnern ein paar Pints Ale trinkt. Der Name des Pubs ist zugleich auch der Titel des vermutlich letzten Films von Ken Loach.

Es ist ein echter Ken Loach geworden, mit einem intelligent strukturierten Drehbuch seines langjährigen Gefährten Paul Laverty (der Partner der spanischen Regisseurin Icíar Bollaín) und mit klarem sozialen Engagement. Auch diesmal gibt der Meister des britischen Kinos den in der Gesellschaft Zukurzgekommenen eine unmiss-verständliche Stimme.
Die Menschen beklagen sich, dass ihre Häuser, für die sie in jungen Jahren ihr Erspartes zusammengekratzt haben, drastisch an Wert verlieren und von ausländischen Immobilienkonzernen aufgekauft werden. Im Pub ist das ein Thema, und Tommy Joe Ballantyne, der Wirt in der alten Eiche, den alle nur TJ rufen, hört sich alles kommentarlos an und zapft unerschütterlich das Bier.
Dave Turner spielt diesen TJ, als ob er sein Leben lang nichts anderes getan hätte, als hinter dem Tresen zu stehen. Ein trauriges Schicksal hat deutliche Spuren in TJs breitem Gesicht hinterlassen: Seine Frau hat vor Jahren die Scheidung eingereicht, weil ihm alles wichtiger war als seine Ehe. Sein Sohn will nichts mehr von ihm wissen. So reiht sich TJ in die lange Reihe überforderter Väter ein. Erst ein kleiner Hund, der ihm vor einem Selbstmordversuch zuläuft, gibt ihm eine neue Bedeutung – und bekommt all seine Liebe.
In die allgemeine Tristesse bringt nun ein Bus einen Schwung syrischer Familien, die vor dem Bürgerkrieg aus ihrer Heimat geflohen sind. Sie sollen in den leer stehenden Siedlungshäusern untergebracht werden. Die junge Syrerin Yara (Ebla Mari) hält mit ihrem Fotoapparat die Ankunft ihrer Landsleute fest. Der Apparat wird ihr von einem jungen Hooligan entrissen und fällt dabei zu Boden. Nur TJ ist bereit, für den Schaden aufzukommen, und legt so den Grundstein für ein entspannteres Verhältnis zwischen Einheimischen und Einwanderern. Es wird allerdings den ganzen Film brauchen, bis die Engländer Sympathie für die Syrer empfinden – und die Syrer diese Sympathie annehmen und vorsichtig erwidern können.
Der Kniff, den Loach und Laverty anwenden, ist die Parallele zu dem großen britischen Bergarbeiterstreik von 1985/86 gegen Thatchers Privatisierung und Stillegung der heimischen Minen. Damals wurde mit einem großen gemeinsamen Mahl nach dem Motto »Wenn man zusammen isst, hält man zusammen« die Solidarität in der Bevölkerung gestärkt. TJs Onkel hat sowohl von den Kundgebungen als auch von dem gemeinsamen Essen starke Schwarzweißfotos gemacht, die Yaras Fotos ähneln und von ihr bestaunt werden.
Die Stimmung unter den Einheimischen ist ablehnend, bei einigen aggressiv. Erst wurde ihnen Arbeit und bescheidener Wohlstand genommen und nun auch die Gemeinschaft. Die Leute in Chelsea und Westminster wollen die Fremden nicht haben, heißt es. Da gewinnt jede Tat an Bedeutung.
Nicht nur versöhnend wirkt die einheimische Laura (Claire Rodgerson), die gemeinsam mit TJ in dessen Lieferwagen den mittellosen Neuankömmlingen Sachspenden liefert, was auch Missgunst beim englischen Nachbarn weckt. Ihr Äußeres ähnelt ein wenig dem von Yara, sodass die beiden bisweilen wie Mutter und Tochter ausschauen.
Als besonders folgenschwer wird sich jedoch TJs Weigerung erweisen, den renovierungsbedürftigen, mit Gerümpel vollgestellten Nebenraum des Pubs für eine Versammlung seiner Stammgäste zu öffnen. Dies wird zu der dramaturgisch notwendigen Krise führen, die das einstweilige Ende von Yaras und Tjs großem Versöhnungsprojekt bedeutet, aber als gemeinsame Niederlage empfunden wird – wie einst bei dem Bergarbeiterstreik.
Ein Loach-Film darf aber nicht mit einer Niederlage enden. Ein Todesfall bringt schließlich alle, Engländer und Syrer, zusammen. Der soziale Konflikt erhält endgültig einen religiösen Hintergrund, auf den nicht zuletzt die melancholische Klaviermusik von George Fenton den ganzen Film über verweist. Altersmild appeliert Loach an die christliche Nächstenliebe.

Claus Wecker / Foto: © 2023 Wild Bunch
THE OLD OAK
von Ken Loach, FB/F 2023, ca100 Min.
mit Dave Turner, Ebla Mari, Claire Rodgerson, Trevor Fox, Chris McGlade, Col Tait
Drama / Start: 23.11.2023

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