Wer je sein Brot mit Tränen aß – »Maror« von Lavie Tidhar

Welch ein Brett, dieser Staats-Noir mit dem Titel»Maror«. Das Magnum Opus des in einem Kibbuz geborenen Lavie Tidhar (Jahrgang 1976) ist ein Ausnahme-Buch, wird Wellen schlagen. Sein letztes hierzulande veröffentlichtes Werk war »Osama« (Kein & Aber, 2013), in dem ein Privatdetektiv nach dem Autor einer Pulp-Reihe sucht, in der sich komplett fiktive bizarre Terrortaten ereignen wie Bomben in der Londoner U-Bahn oder Flugzeuge ins World Trade Center – Titel der Reihe: »Osama bin Laden: Vergelter«. Eh kein Verlag wagte sich bei uns an »A Man Lies Dreaming«, ermittelt hier doch ein »Wolf« Hitler als Privatdetektiv in einem schäbigen London; er ist ein Nazi-Flüchtling aus einem Deutschland, in dem 1933 die Kommunisten an die Macht gelangt sind. Die Nazis werden verfolgt und verraten, auch von Figuren wie Mosley, Klaus Barbie oder Rudolf Hess. Das Ganze letztlich der Fiebertraum eines Pulpromane schreibenden KZ-Häftlings, der in Auschwitz nicht seinen Verstand verlieren will.
Viele der rund ein Dutzend Bücher von Lavie Tidhar durchbrechen die Genres, schäumen von Phantasie – »punchdrunk« dafür ein netter englischer Ausdruck. Die Artus-Tafelrunde nahm er sich in »By Force Alone« vor, den Mythos von Robin Hood in »The Hood«. In seinem »Unholy Land« liegt Palästina in Ostafrika und baut gerade Mauern, um afrikanische Flüchtlinge draußen zu halten, in »Central Station« wird ein Tel Aviv der Zukunft zur border town, in der Kulturen, reale und virtuelle, heftig aufeinanderprallen. Genregrenzen sind diesem Autor egal, man hat sich darauf eingestellt, ihn als Fantasy-Autor von Rang zu sehen. (Toll auch seine Herausgeberschaft von »The Best of World SF«, 26 innovative Geschichten vor allem aus den Peripherien, inzwischen von zwei weiteren großen Lieferungen ergänzt. Und nicht zu vergessen, zusammen mit Shimon Adaf: »Art and War: Poetry, Pulp and Politics in Israeli Fiction«.)
In »Maror« wird nun der Gründungsmythos Israels neu verhandelt, so etwas wie dessen Subgeschichte – »a true story, alles davon wahr« – episch über vier Jahrzehnte erzählt. »Nation building« als lupenreiner Noir: Wer einen Staat baut, kommt an Opfern, Bomben und Verbrechen nicht vorbei, braucht auch Diebe, Prostituierte, Polizisten. Im Mittelpunkt stehen zwei Cops, der eine korrupt und drogensüchtig, der andere, Inspector Cohen, so etwas wie der »Hohe Priester Israels«, gerne aus der Bibel zitierend. Beide bewegen sich in einer Unterwelt, in der Gier und Kontrollwut alle Ideologien übertrumpfen und Idealisten gar vielleicht die Schlimmsten von allen sind. Selten, dass ein Buch mir Echos von Hammetts »Roter Ernte« und Jerome Charyns Isaac Sidel zugleich evoziert. »Maror« übrigens sind die bitteren Kräuter, die am Seder an Pessach gegessen werden. Sie symbolisieren die Bitterkeit der Sklaverei im alten Ägypten. »Und sie verbitterten ihr Leben mit harter Arbeit, mit Mörtel und mit Ziegeln« (Exodus 1:14).

Alf Mayer
Lavie Tidhar: Maror. Aus dem Englischen von Conny Lösch. Herausgegeben von Thomas Wörtche. Suhrkamp Verlag, Berlin 2024. Hardcover, 639 S., 22 €.

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