Die Journalistin Florence Aubenas hat vor zwölf Jahren ein Buch über die Beschäftigten im Hafen von Caen vorgelegt. Für »Le quai d‘Ouistreham« mischte sie sich unter die»Unsichtbaren«, zumeist Frauen, die dafür sorgen, dass Toiletten, Gänge und Kabinen auf den Fähren zwischen Frankreich und England in einem passablen Zustand bleiben. Es brauchte ein Kaliber wie die tatkräftige Juliette Binoche, dass die Autorin ihren Widerstand gegen eine Verfilmung aufgab.
Auf Aubenas’ Vorschlag wurde schließlich mit Emmanuel Carrère ein erfahrener Mann für das Drehbuch (mit der Schauspielerin Hélène Devynck) und die Leitung der Dreharbeiten engagiert. Carrère war Filmkritiker bei der angesehenen Filmzeitschrift »Positif«, er ist ein preisgekrönter Buch- und Drehbuchautor und hat auch als Regisseur gearbeitet. Bei seinem Film »Wie im echten Leben«, im Original schlicht »Ouistreham«, nach dem Hafen von Caen benannt, hat er sich deutlich erkennbar an den Sozialdramen des Briten Ken Loach orientiert.
Juliette Binoche übernahm die Rolle der Schriftstellerin Marianne, die ihr pivilegiertes Leben in Paris aufgegeben hat, um sich im nördlichen Caen als arbeitslose, von ihrem Mann geschiedene Ehefrau auszugeben. Weil ihr lange zurückliegendes, kurzes Jurastudium für eine Qualifikation nicht ausreicht, ist sie bereit, sogar einen Putzjob anzunehmen.
Mit Marianne lernen wir das Prekariat kennen. Es ist auch für die Schauspielerin ein unbekanntes Terrain, und sie erweist sich als Glücksgriff, weil Toilettenputzen und Bettenbeziehen im Akkordtempo auch für eine Binoche nicht zum Alltag gehören. Sie muss sich also nicht besonders anstrengen, um unerfahren zu wirken. Dass sie ihren Part professionell zurückgenommen spielt, kann hier kurz angemerkt werden.
Von der Abfertigung im zuständigen Amt, wo eine junge, alleinerziehende Mutter in Geldnot sich beschwert, über den obligatorischen Trainingskurs für Reinigungspersonal bis zu Job-Messe, auf der Marianne von dem sympathischen Cédric (Didier Pupin) angebaggert wird – der Film versucht sich an einem realistischen Blick auf die Mühen in der sozialen Unterschicht.
Für das pünktliche Erscheinen am Einsatzort ist jede Putzfrau selbst verantwortlich. Männliche Chefs gestatten sich herabwürdigende Kommentare und Drohungen, Vorarbeiterinnen stehen selbst unter Druck und geben ihn an das Team weiter. Wer nicht spurt, fliegt raus, das Reservoir an bereitwilligen Arbeitskräften scheint unerschöpflich.
Ein bisschen idealistisch ist allerdings die Zeichnung der Kolleginnen und Kollegen geraten, die eine verschworene Gemeinschaft bilden und sich auch einmal helfen, wenn etwas schiefgeht. Aus ihrer Gruppe stechen zwei, die zudem vorzüglich dargestellt werden, besonders hervor: Christèle (Hélène Lambert), eben jene renitente junge Frau aus dem Amt, und der mit originellen Kommentaren aufwartende Cédric. Besonders mit Christèle wird Marianne immer vertrauter, sie wird praktisch in Christèles Familie aufgenommen, was ihre Gewissensbisse verstärkt. Als mit den Kindern Mariannes Geburtstag gefeiert wird, ist sie kurz davor, ihre wahre Identität preiszugeben.
Im weiteren Verlauf bestimmt Mariannes moralischer Konflikt den Gang der Dinge. Darf sie sich das Vertrauen der ahnungslosen Christèle erschleichen, um Material für ein Buch zu sammeln? Und demütigt sie dadurch ihre Freundin nicht umso mehr?
Man fragt sich, ob der junge Filmkritiker Carrère diese Akzentverschiebung vom sozialen zum moralischen Problem gut gefunden hätte. Ganz sicher weiß der erfahrene Regisseur Carrère, dass menschliche Beziehungen, die immer intensiver werden, und die unvermeidlichen Konflikte in ihnen immer noch die ansprechenden Filmthemen liefern.
Claus Wecker / Fotos: © Neue Visionen Filmverleih
WIE IM ECHTEN LEBEN (Ouistreham)
von Emmanuel Carrère, F 2021, 106 Min.
mit Juliette Binoche, Hélène Lambert, Louise Pociecka, Steve Papagiannis, Aude Ruyter, Jérémy Lechevallier
nach dem Buch von Florence Aubenas
Drama / Start: 30.06.2022