Agatha Christies »Mord im Orient-Express« bei den Burgfestspielen in Bad Vilbel

Dem Anblick einer gnadenlos dahingemetzelten Leiche dürften die wenigsten Besucher der Bühnenversion von Agatha Christies »Mord im Orient-Express» in Vilbels Wasserburg schon einmal derart lange ausgeliefert gewesen sein. Auch wenn es nur eine bis zum Hals zugedeckte Puppe ist, die den im Bett seines Zugabteils mit acht Messerhieben aus dem Leben beförderten Amerikaner Samuel Ratchett zeigt, so ist es doch unheimlich, wenn uns ihr fahles Antlitz nicht nur beim Gang in die Pause nachzuschauen scheint, sondern bei der Rückkehr auch wieder so empfängt. Sie liegt und liegt und liegt, wie das Leichen eben tun. Irgendwann war sie dann aber wieder weg.
Doch acht Stiche? Meisterdetektivische Buch- und Filmkenner merken schon, dass hier etwas anders ist in Vilbel. Anders als im Roman und den beiden großen Filmen. Der US-amerikanische Verfasser der Theaterversion, Ken Ludwig, unterschlägt die biblische Zwölferkomponente des Falls und fährt deutlich weniger Personal auf als Agatha Christie und die Filmregisseure. Es bleibt, dies zur Beruhigung, aber auch so kompliziert genug, die zusammengewürfelt wirkende Schar von illustren Figuren aus allen möglichen Ländern und Schichten auf der Luxusschiene auseinanderzuhalten. Von Istanbul nach Lausanne und weiter nach Paris und Calais soll die Fahrt mit der Eisenbahn gehen, die allerdings schon bald auf offener Strecke im damals noch Jugoslawischen in einer Schneewehe stecken bleibt. Schon am nächsten Morgen ist jener Ratchett tot und der zufällig anwesende Meisterdetektiv Hercule Poirot bereit, den Fall zu klären.
Agatha Christie hat im Jahr 1934 die Entführung und Ermordung des Lindbergh-Babys 1932 auf die Idee gebracht, dem damals noch ungelösten Fall eine literarische Antwort zu geben. Über das Mördersuchspiel hinausgehend stellen sich ihr auch Fragen nach Schuld und Sühne, Verbrechen und Strafe, Gerechtigkeit und Selbstjustiz. Die Bühne bereitet das Spiel deshalb als eine Erzählung auf, französelnd umrahmt von einer rückblickenden Einführung – »meine schwierigste Fall« – und einem Epilog von »die beste Detektiv von die Welt«.
Die Vilbeler Wasserburg gibt uns zur Linken den Blick auf die holzgetäfelten Interieurs des Luxuszugs frei, seine Abteile mit großen Fenstern, den Gesellschaftswagon. Zur anderen Seite kreieren eine Werbetafel und wechselnde Bildprojektionen nostalgisches Reisefeeling. Im Chic der 30er Jahre treten auch die Figuren auf, mit Hüten, langen Röcken, viel Pelz und noch mehr Attitüde. Im Mittelpunkt selbstredend das mit Fliege und Hut antretende belgische Superhirn: schlagfertig, distinguiert, von angemessener Eitelkeit, immer für ein gutes Essen und Galanterien zu haben. Andreas Krämer verhilft der Figur zu einer lebensechten Erscheinung, deren Menjou-Bärtchen keiner Nachtbinde und deren Scheitel ob fehlender Haare keiner Pomade bedarf. Bewusst übertrieben werden unter der Regie von Adelheid Müther dagegen die Mitpassagiere präsentiert. Aus dem fein eingespielten Ensemble, das ja nicht nur uns, sondern immer auch dem Kommissar etwas vorspielt, ragen Virginia V. Hartmanns bestechend coole ungarische Gräfin Elena Andrenyi und Maria Brendels Helen Hubbard als hochgewachsener Dietrich-Typ heraus. Ein etwas milderes schreiendes Entsetzen hätte Alice von Lindenaus Rolle als gefakte schwedische Missionarin wohl weniger schnell enttarnt, und Steffen Weixlers Sekretär Hector etwas weniger Anthony-Perkins-Psycho-Stottern, was die prächtige Schau aber nicht im Geringsten schmälert. Ins Stocken kommt hier nur der Orient-Express, Ensemble und Publikum katapultiert es dafür schnell auf Hochtouren. Ganz großer Bahnhof auf der Erfolgsschiene garantiert. Bahnsteigkarte dringend empfohlen.

Winnie Geipert / Foto: © EUS

Termine: 1., 2., 4., 28., 29. Juli,
jeweils 20.15 Uhr; 3. Juli, 18.15 Uhr
(plus 10 Termine im August)
www.kultur-bad-vilbel.de

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