Es war zum Verrücktwerden. Sieben Wochen lang probte der berühmte Regisseur Peter Zadek 1999 in Straßburg seine Hamlet-Inszenierung für die Wiener Festwochen. Eine Besetzung, die sich sehen lassen konnte: Angela Winkler, Eva Matthes, Ulrich Wildgruber, Otto Sander und auch Klaus Pohl, der aus seinem Proben-Tagebuch – zum Glück!!! – einen Roman gemacht hat. Eine Nahaufnahme, wie sie selten zu sehen ist? Sicher. Ein Blick hinter die Kulissen? Auch. Schamlos, indiskret? Vor allem nah dran, genau. Wir sehen das irre Theater, das, bei etwas Glück, zu großem Theater führt. Wir lesen: erzähltes Theater.
Kein Verlag wollte dieses Buch drucken, zu speziell, nur für Insider interessant. Mit Jandl gesagt: Werch ein Illtum. Denn Klaus Pohl, selbst Schauspieler, aber auch Schriftsteller und Dramaturg, hat aus diesem Stoff einen richtigen Roman gemacht, der auch deshalb so spannend bleibt, weil die Inszenierung, die er beschreibt, praktisch bis zum letzten Tag, immer auf der Kippe steht. Wir sehen in Nahaufnahmen, was der normale Zuschauer nie zu sehen bekommt. Wir sehen den Preis, den die Schauspieler zahlen müssen, um glaubwürdig Andere zu sein als die, die sie sind.
Angela Winkler als Hamlet, nicht zum ersten Mal eine Frau in dieser Rolle. Ulrich Wildgruber, der 1977 in der als Jahrhundertinszenierung gerühmten Bochumer Inszenierung von Zadek Hamlet spielte, diesmal als Polonius.
Proben und Uraufführung finden in Straßburg statt. Von Anfang an wollte Pohl über die Inszenierungszeit ein Tagebuch führen. »Es ist alles immer vorbei, sobald es passiert. Dagegen schreibe ich mein Tagebuch, ich schreibe ein Buch gegen das Vergessen (…) Vieles überspringe ich. Manches erfinde ich.« Es wird für alle, Schauspieler, Bühnenpersonal, Regisseur ein aberwitziges Unternehmen. Und für alle Beteiligten eine ungeheuerliche Anstrengung. Angela Winkler kann sich, von tiefen Selbstzweifeln geplagt, nicht vorstellen, als Hamlet auf der Bühne zu stehen. Sie kann sich, folgerichtig, den langen Text einfach nicht merken. Dagegen hat Zadek ein einfaches Mittel: »Gegen Textangst hilft nur eines: Text lernen!« Doch Winkler flieht. Sie erscheint nicht zu den Proben. Sie geht in den Vogesen spazieren, während in Straßburg die Panik ausbricht. Sie will den Hamlet nicht spielen, sie kann es nicht, zumal sie immer den grandiosen Ulrich Wildgruber vor Augen hat, der vor dreiundzwanzig Jahren den Hamlet in Bochum spielte, in Zadeks noch immer legendären Inszenierung.
Angela Winkler »ging über’s Gebirg. Wolken wechselten mit blauen Himmeln. Wenn die Sonne ihren Weg beschien, fühlte sich Angela wie ein Mädchen. Niemals würde der Regisseur sie hier auf der Höhe auskundschaften«. Zadek, dem Nervenzusammenbruch nahe, schafft es aber, sie zurück zu holen, ihr Mut zu machen. Angela: »Ich schmeiß den Kerl zum Krepieren raus« aus meinem Leben. »Ehe ich selbst an ihm krepiere (…) Ich bin krank.« Zadek: »Das wäre ideal für die Rolle«. Angela: »Die Rolle wächst mir über den Kopf.« Zadek: »Das gehört zur Rolle.« Angela denkt nur: »Ich werde mich nicht von seiner Hamlet-Idee vergewaltigen lassen und erst recht nicht in sein Irrenhaus zwingen lassen.«
Die Spannung steigt. Es knistert regelrecht zwischen allen Akteuren. Immer wieder: irres Theater. Und irgendwann wird dann doch irgendwie weiter geprobt. Immer am Rand der Katastrophe.
Die beiden Söhne von Angela Winkler und Eva Mattes, sie spielt die Königin Gertrud, Hamlets Mutter, sollen zurück nach Berlin zu ihren jeweiligen Vätern und Schulfreunden. Die Jungen freuen sich auf die Zugfahrt ohne Begleitung. Winkler hält den Abschied nicht aus und springt auf den anfahrenden Zug. Wieder fehlt sie bei den Proben. Wieder droht die Katastrophe, der Abbruch. Es bleibt immer spannend bis zur Premiere in Straßburg, immer eine Gratwanderung. In Wien, wo das Stück bei den Wiener Festwochen aufgeführt werden soll, ist die Kulturbehörde völlig überfordert mit diesem »totalen Wahnsinn«.
Aber Zadek weiß eins genau: er kann »diese Lebenswerk-Niederlage« keinesfalls zulassen, »er wollte mit ihr« (also Angela Winkler) »als Hamlet triumphieren – über alle seine Widersacher«.
Auch ein Teil der Truppe hatte die Schnauze voll von diesen Extravaganzen: »wird jetzt umbesetzt? Werden wir ausbezahlt?« Wie geht es weiter? Der Wahnsinn dieser Situation übersteigt bei weitem den Wahnsinn Hamlets. Angela Winkler kommt zurück, sie erhält jetzt per Ohrknopf den Text, der ihr solche Angst machte und sie total überforderte. Die Zeit wird knapp, Zadek fordert von seinen Schauspielern den Einsatz bis zur Erschöpfung. »Es gab keinen Abgrund und keinen Zusammenbruch, dem der Regisseur auswich. Er ließ uns abstürzen, er ließ uns tief fallen, und er sah uns dann mit Neugierde dabei zu, wie wir uns mithilfe unserer Fantasie aus den Trümmerkratern wieder herausarbeiteten. Er lachte manchmal und wunderte sich häufiger, er heilte und riss Verheiltes wieder auf.« Sorgen machte ihm auch Ulrich Wildgruber. Dessen Gesundheitszustand ist schlecht, ständig spricht er von Selbstmord und dass sein Ende bald kommt. Er trauert immer noch seiner Hamlet-Rolle »in rotem Samtmantel mit Fuchspelzkragen« in Bochum nach. »Es wäre undankbar, sich zu beschweren. Nicht Resignation bestimmt, was ich tue, sondern Einsicht. Einsicht in das Unumgängliche. Der eigene Verfall – schwer zu verstehen, schwerer zu ertragen.«
Doch Peter Zadeks neue Hamlet-Inszenierung wird zum Triumph, in Straßburg, in Wien, in der Theatergeschichte. Nach etwa hundert gefeierten Aufführungen, auch in Hamburg und Berlin, trennt sich die Truppe. Es war ein langes, ein anstrengendes und überaus erfolgreiches Jahr. Für Wildgruber war es der letzte Auftritt. Er wollte, wie er sagte, das neue Jahrtausend nicht mehr erleben. Am 30. November 1999 geht er am Strand von Sylt, in die Nordsee. Pohl und Otto Sander treffen sich danach in der Berliner Paris-Bar. Sie trinken. Und Pohl zitiert die Verse:
»So gegenläufig unser Wille sich und Schicksal wenden, / Das, was wir planen, immerdar zerbricht, / Uns einen unsere Absichten, ihr Ausgang nicht.«
Mit diesen Versen endet ein großes, ein spannendes, ein ergreifendes Buch.
Sigrid Lüdke-Haertel
Klaus Pohl: »Sein oder Nichtsein«.
Roman, Galiani Verlag, Berlin 2021, 288 S., 23 €
„So gegeläufig unser Wille sich und Schicksal wenden,
Dass, was wir planen, immerdar zerbricht.
Uns eignen unsere Absichten, ihr Ausgang nicht.“
So lautet das Zitat am Schluss. Ein wohl gestalteter Vers, auch in der Übersetzung. Man sollte ihn nicht durch schlampige Wiedergabe, wie in diesem Artikel, verhunzen.