Ein Audiowalk auf den Spuren verfolgter Frankfurter Künstler*innen in der NS Zeit

In diesen heil‘gen Hallen
kennt man die Rache nicht
Und ist ein Mensch gefallen
führt Liebe ihn zur Pflicht.
Sarastro, Arie aus »Die Zauberflöte«
Als der jüdische Kammersänger Hans Erl 1938 diese Arie in der Festhalle Frankfurt sang, sang er sie nicht zu seinem Vergnügen, sondern er sang sie um sein Leben. Gerade war er von der Straße weg verhaftet worden, zusammengetrieben wie so viele andere, um nach Dachau deportiert zu werden. Einer der Wachhabenden forderte ihn auf, diese Arie zu singen, dann würde er ihn verschonen. Er hielt sein Versprechen. Das hielt nur kurz. Hans Erl wurde 1942 endgültig deportiert, danach verliert sich seine Spur.
Die Geschichte von Hans Erl ist nur eine der vergessenen jüdischen Künstlerbiografien, die das Kollektiv Widerhall in seinem Audiowalk reanimiert, und sie hat ihm den Titel gegeben. Das im Studio Naxos beheimatete Künstler-Kollektiv spinnt Fährten quer durch Frankfurts Innenstadt zwischen Willy-Brandt-Platz und Körnerwiese und birgt auf dem Weg Daten, Schicksale, Geschichten. Ein Gewebe wird am Schluss entstanden sein, ein zartes, aber ein sehr wertvolles. Das Thema: »Wie vollzog sich der Machtwechsel 1933 an den Frankfurter Theatern? Wie wirkte sich dies auf das künstlerische Leben Frankfurts und auf die Schicksale der Künstler*innen aus? Welche Namen sind heute vergessen, die doch die 20er Jahre entschieden mitprägten?«
Natürlich gibt es nichts mehr davon, gar nichts ist übrig, umso wichtiger ist es, die zertrümmerten Erinnerungen zu bergen und ein Bewusstsein dafür zu entwickeln, wie sich dies alles abgespielt hat, ganz allmählich, vor den Blicken aller, die Diffamierung, die Denunziation, das Spielverbot, das Ausstellungsverbot, das Arbeitsverbot, die Deportation, die Vernichtung.
Die Recherchen sind akribisch. In ihren sorgfältig eingesprochenen Texten (von u.a. Ensemblemitgliedern des Schauspiel Frankfurt) versenken sie sich zunächst in die 1920-Jahre, in den Expressionismus, in die Herausbildung neuer Frauenideale, in denen die Androgynität lustvolle Erfahrungen verspricht. Und sie zeichnen anschließend die Vertreibung jüdischen Kulturlebens nach 1933 nach, sukzessive, Stück für Stück, Platz für Platz, Minute für Minute, Stufe für Stufe tiefer hinein in die Abgründe.
Die erste Station des Audiowalk »Der Rache nicht« ist die Fassade des Schauspiel-Opernhauses. Die Sprecherin verweist auf die kühne Transparenz der modernen Glasfassade, auf die tollen hängenden Goldwolken, auf diese Atmosphäre von Aufbruch und Transparenz in den 1960er Jahren. Dort soll es auch eine Gedenktafel geben für die jüdischen Künstler, die hier in den 1930er Jahren arbeiteten. Ja wo ist sie? Die Sprecherin, die mich auf meinem Smartphone zu der Tafel geleitet, zählt die Schaukästen ab, die sich zwischen der Opern-und Schauspielhausfassade befinden, damit ich sie auch finde.
An diesem Ort beginnt die Geschichte der beiden Schwestern Carry und Nini Hess und ihrem Fotostudio. Es sind hochbegehrte expressionistische Fotografien, mit denen sie Bild für Bild ein Schaufenster in ihre Zeit bauen, aber sie haben auch einen Vertrag mit den Städtischen Bühnen. Sie fotografieren Mary Wigman, Heinrich George. Die berühmte Pavlova ist völlig entzückt, schreibt die FAZ. 26.1. 1952 in einem Interview, das sie mit Carry Hess nach deren Rückkehr nach Frankfurt führt.
Ineinander verschränkt sind ihre Biografien mit denen der gefeierten Opernsänger*innen Hans Erl und Magda Spiegel, des Schauspielers Joachim Gottschalk und seiner jüdischen Frau Meta, des Generalmusikdirektors Hans Wilhelm Steinberg und des Intendanten Josef Thurnau, stellvertretend für viele. Sie erzählen vom Erfolg der Brecht- Oper »Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny« 1930, in der auch die Kammersängerin Spiegel mitsang. Noch war sie wegen ihrer Virtuosität geschützt, aber nicht mehr lange. Theodor W. Adorno saß als Kritiker im Zuschauersaal. Da zog bereits die SA durch die Freßgass vor die (heutige Alte) Oper und forderte die Absetzung. Drei Jahre später weht auf dem Operndach die Hakenkreuzfahne. Im März 1933 beginnt die Verhaftungswelle, beginnt das Berufsverbot. Joachim Gottschalk geht nach Berlin und etabliert sich als Filmstar, doch als Goebbels bei einem Premierenempfang die Hand seiner Frau küsst, ist sein Schicksal besiegelt.
Von der Alten Oper geht es zur Körnerwiese, wo der Jüdische Kulturbund seinen Sitz hatte. Hans Wilhelm Steinberg leitete ihn, bis er 1938 nach Palästina ausreisen konnte. Carry Hess ging nach Paris und konnte sich retten, ihre Schwester Nini starb in einem Lager, man weiß nicht einmal in welchem.
Carry Hess erstritt ab 1950 über fünf Jahre lang eine ihr zugesicherte Wiedergutmachungsleistung von 40 000 Mark, die allerdings nur auf internationalem Druck zustande kam. Sie hat sie selbst nicht mehr entgegen nehmen können. So viel zum Selbstverständnis der Nachkriegszeit, aber das wissen wir ja. Umso wertvoller, umso bedeutender ist diese Erinnerungsarbeit, jetzt, wo kaum noch jemand darüber erzählen kann.

Susanne Asal (Foto: © Christian Schuller)

Den Audiowalk lädt man sich auf Smartphone oder Tablet runter, solidarisches Preissystem wie immer beim Studio Naxos. Zum Download der Wegbeschreibung und der Audio-Datei sowie weitere Informationen: https://studionaxos.de/der-rache-nicht-audiowalk/

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