Denise Minas»Totstück«

Susan ist 13, als sie zum ersten Mal schwanger wird. Von einem Mann, der mehr als doppelt so alt ist wie sie. Und der sie auf den Strich schickt. »Auf seine Art war er gut zu ihr«, urteilt Jahrzehnte später ihre Schwester Nikki. Susan ist zu diesem Zeitpunkt schon lange tot. Mit 18 war sie erneut schwanger geworden. Diesmal trägt sie das Kind aus. Wenig später wird sie ermordet. Der Fall bleibt unaufgeklärt. Ihre Tochter wächst bei Adoptiveltern auf und erfährt nichts von alledem, bis sie sich als erwachsene Frau auf die Suche nach ihren biologischen Eltern macht. Denn sie erwartet selbst ein Kind und fürchtet eine negative genetische Disposition.
Denise Minas Roman »Totstück« beginnt in einer Glasgower Adoptionsagentur, wo Carol, so heißt das Mädchen jetzt, auf ihre Tante Nikki wartet. Das Zusammentreffen verläuft anders als erwartet. Nikki möchte, dass Carol, die als Ärztin arbeitet, ihre Möglichkeiten nutzt, um den Mörder ihrer Mutter zu überführen. Dessen Identität sei längst klar, doch verhindere ein falsches Alibi eine Anklage. Und Carol könne das mit einem Blick in alte Krankenhausakten nachweisen.
Es versteht sich, dass aus diesem Plan nichts wird. Der Fall nämlich ist komplexer und einfacher zugleich. Und der Autorin liegt wenig daran, eine schlichte Tätersuche zu rekonstruieren. Vielmehr lässt sich »Totstück« als Studie über Klassen- und Geschlechterverhältnisse im Gewand eines Spannungsromans lesen, dessen mäandernder Plot das alte Elend in immer neuen Facetten präsentiert. Dass man das Buch dennoch nicht deprimiert beiseitelegt, verdankt sich seinen starken, den widrigen Umständen trotzenden, weiblichen Figuren, die durch Denise Mina erzählerisch gekonnt ins rechte Licht gerückt werden.

Joachim Feldmann

Denise Mina: Totstück. Deutsch von Karen Gerwig. Hamburg, Argument Verlag 2021. 320 Seiten, 23 Euro.

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