Filmbücher sind eine seltene Spezies geworden – um nicht zu sagen, eine bedrohte. Viele Verlage, die Filmreihen auflegten, haben sie längst wieder eingestellt. Unvergessen und prägend zum Beispiel Hansers »Blaue Reihe Film«, 1974 gestartet, 1992 nach 45 Bänden jäh beendet. Wie bei französischen Vorbildern war jeder Band einem Regisseur, einem Darsteller oder einem Thema gewidmet und entstand in Zusammenarbeit mit der Stiftung Deutsche Kinemathek sowie den Filmspezialisten Peter W. Jansen und Wolfram Schütte. Diese Reihe prägte unseren Blick etwa auf Eisenstein, Fassbinder, Buster Keaton, Luchino Visconti, Mae West, Luis Bunuel, Fritz Lang, Claude Chabrol, Robert Bresson, Stanley Kubrick, Martin Scorsese, Lina Wertmüller, Max Ophüls, Akira Kurosawa, auf New Hollywood, die Filme der DDR oder die der Schweiz.
All das war einmal, klingt heute fast märchenhaft. »Once Upon a Time … in the West«, nannte Sergio Leone 1968 seine große Westernelegie, die wir zu deutsch als »Spiel mir das Lied vom Tod« kennen. »Once Upon a Time … in Hollywood« hieß der jüngste Film von Quentin Tarantino aus dem Jahr 2019. »Es war einmal in Hollywood« ist ein Film über einen Schauspieler (Leonardo DiCaprio als Rick Dalton) und zugleich ein Film über ein Hollywood im Umbruch in den späten 1960er Jahren – jene Jahre also, in denen ein Europäer wie Sergio Leone kam, um einem ur-amerikanischen Genre einen erfrischend moderne(re)n Stempel aufzudrücken.
Für Jürgen Müller und Philipp Bühler ist der Tarantino-Film die Klammer und Metapher, mit der sie in ihrem gigantisch interessanten, gigantisch umfangreichen Vorwort eine ganze Dekade zusammenfassen. Ihre 28 Seiten umfassende Einleitung eröffnet das wohl wichtigste Filmbuch des Jahres. Insgesamt hat es 880 Seiten, wiegt mehr als zweieinhalb Kilo. Und in all seiner Glorie ist es eigentlich so etwas Unmögliches wie ein gerade frischgeschlüpfter Dinosaurier. Nämlich Band 10 einer reich illustrierten Filmbuchreihe, die mittlerweile einhundert Jahre internationales Filmschaffen abbildet und kommentiert.
Seit 2004, wenn ich das richtig sehe, sind Schritt für Schritt die »Filme der 20er/ Filme der 30er/ … 40er/ … 50er« usw. bis hin zu den Jahren 2000–2010 und jetzt aktuell »100 Filme der 2010er« erschienen. Ihr Herausgeber ist der fulminante Jürgen Müller, Lehrstuhlinhaber für Mittlere und Neuere Kunstgeschichte an der Technischen Universität zu Dresden. Müller sorgt dafür, dass die Filmkompendien auch lesbar sind und die Filmauswahl den eleganten Spagat zwischen Blockbuster, Art House und Innovation meistert. Ihres physischen Gewichtes wegen stehen die zehn Bände – sie brauchen mehr als ein halben Meter Platz – bei mir in der untersten Regalreihe. Ihr Inhalt aber hebt sie auf ständige Griffhöhe. Diese Bücher sind unersetzlich, wenn man einen ebenso visuellen wie tiefschürfenden Zugriff auf das international wichtigste Filmschaffen der letzten zehn Dekaden haben will.
Möglich macht das, und das ist nicht hoch genug zu rühmen, der Verlag Taschen aus Köln, der sich mit bestens ausgestatteten Kunstbüchern und einem unschlagbaren Preis-Leistungsverhältnis internationales Renommee erworben hat.
So oft totgesagt wie in den vergangenen zehn Jahren wurde das Kino wohl noch nie. Tatsächlich hat sich in der Dekade 2011–2020 sehr viel von dem verändert, wie wir Filme sehen – und uns selbst. Soziale Medien und das Internet haben uns eine neue Selbst- und Welterfahrung eingeübt, Streaming-Dienste die Möglichkeiten des Sehens vervielfacht. Videospiele mit manchmal größerem Produktionsbudget als ein Actionfilm lockten in eigene Welten. Serien sind die ziegelstein-dicken Augenschmöker, die ans Sofa fesseln. Binge-wachting für Filme machen vielleicht noch einige wenige Kritiker auf Filmfestivals oder Fantasy-Filmfest-Hardcore-Fans, normale Kinogänger sind zu »coach potatoes« geworden. Die große Leinwand hat im letzten Jahrzehnt ernsthafte Konkurrenz bekommen. Schon bevor Corona die Kinotüren weltweit per Lockdown schloss, waren die gewohnten Zeitfenster zwischen Kinostart und Zweitverwertung in anderen Medien infrage gestellt – das euphemistische Wort heißt »Home Entertainment«.
Kinogänger sind zu Konsumenten geworden, Film wurde und ist (zu) oft zu bloßem »Content« degradiert. Statt sehnsüchtigem Blick auf Kinoplakate genügt heute ein Klick auf bunte Bildschirmkacheln. Schon ist man »im Film«. Bleiben dem Kino nur noch Blockbuster, Starkult, Comic-Helden und computeranimierte Schauwerte ohne jede Erdung? Während der Pandemie saß ich beim Rückflug aus Neuseeland für über 24 Stunden mitten unter 200 jungen Passagieren der hinteren Holzklasse, um mich herum flackerten auf so gut wie allen Sitzmonitoren die computergenerierten Stahlgewitter der Marvel-Comic-, Star Wars- oder sonstigen Superhelden-Universum, es war ein Erlebnis der besonderen Art – aber eben nicht das ganze Kino.
Schon ein erster Blick in das Buch »100 Filme der 2010er« zeigt ein überraschend vielfältiges, enorm vitales und vor allem quicklebendiges Kino. Das letzte Jahrzehnt war filmisch alles andere als langweilig, eintönig und dem Aussterben geweiht. Und ehrlich: Wer würden all die hier versammelten Filme gerne nur im Streaming sehen? Das Kino bleibt ein Sehnsuchtsort. Dieser Band lässt dessen starke Magnetkraft spüren.
Jeder der 100 wichtigsten Filme der Dekade wird ausführlich dargestellt. Es gibt Biografien von Schauspielern und Regisseuren, Credits, Einspielergebnisse, Hintergründe und exzellentes Bildmaterial. Zum Buch gehört auch eine ausführliche Liste der Oscar-Gewinner 2011–2020. Und hier der Inhalt, erinnern Sie sich? Und wo sind Sie diesen Filmen begegnet?
Ich hoffe doch, im K-I-N-O.
2011: Nader und Simin – Eine Trennung / Brautalarm/ Drive/ Hugo Cabret/ LeHavre/ Melancholia/ Midnight in Paris/ The Artist/ The Help/ The Tree of Life.
2012: Liebe/ Argo/ Django Unchained/ Holy Motors/ Schiffbruch mit Tiger/ Magic Mike/ The Place Beyond the Pines/ Searching for Sugar Man/ Avengers 1–4/ The Dark Knight Rises/ Die Tribute von Panem/ TheMaster/ Zero Dark Thirty
2013: 12 Years a Slave/ A Touch of Sin/ Dallas Buyers Club/ Die Eiskönigin – Völlig unverfroren/ Gravity/ Her/ Ida/Inside Llewyn Davis/ La Grande Bellezza – Die große Schönheit/ Norte, The End of History/ Nymphomaniac/ Only Lovers Left Alive/ Das erstaunliche Leben des WalterMitty/ Wie der Wind sich hebt
2014: Birdman oder Die unverhoffte Macht der Ahnungslosigkeit/ Boyhood/ Ex Machina/Grand Budapest Hotel/ John Wick/
Mommy/ Timbuktu/ Whiplash
2015: The Assassin/ Carol/ In Jackson Heights/ Hummer sind auch nur Menschen/ Mad Max – Fury Road/ Der Rückkehrer/ Sicario/ Spotlight/ Star Wars VII–IX
2016: La La Land/ Manchester by the Sea/ Moonlight/ Toni Erdmann
2017: Call Me by Your Name/ Coco – Lebendiger als das Leben!/ The Death of Stalin/ Dunkirk/ Augenblicke: Gesichter einer Reise/ Get Out/ LadyBird/ Okja/ Der seidene Faden/ Das Flüstern des Wassers/ Wind River/ I,Tonya
2018: Black Panther/ BlacKk Klansman/ Bohemian Rhapsody/ Cold War – Der Breitengrad der Liebe/ Roma/ Shadow/ Shoplifters – Familienbande
2019: 1917/ Bacurau/ Jojo Rabbit/ The Joker/ Little Women/ Midsommar/ Die Wütenden/ Parasite/ Porträt einer jungen Frau in Flammen/Der schwarze Diamant/ Der See der wilden Gänse
2020: The Devil All the Time/ The Father/ Der Unsichtbare/ Judas and the Black Messiah/ Mank/ Niemals Selten Manchmal Immer/ Nomadland/ Promising Young Woman/ Der Rausch/ Soul/ Tenet/ The Trial of the Chicago 7.
Alf Mayer
Jürgen Müller (Hg.): 100 Filme der 2010er. Verlag Taschen, Köln 2022. Hardcover, Format 19,6 x 25,5 cm, Gewicht 2,77 kg. 880 Seiten, 40 Euro.