Der Mann ist in Nettetal, nahe der belgischen Grenze, geboren und aufgewachsen. Er ist türkischer Abstammung. Er hat eine Lehre als Werkzeugmechaniker absolviert und den Realschulabschluss an einer Abendschule nachgeholt. Er lebt als Autor, Theatermacher, Herausgeber und Verleger noch heute in diesem Nettetal. Er schreibt deutsch. Seinen ELIF-Verlag, gegründet 2011, der vor allem Lyrik herausbringt, finanziert er allerdings als Gabelstapelfahrer. Hut ab. Für seine eigenen Gedichte wurde er vergangenes Jahr mit dem Peter-Huchel-Preis ausgezeichnet. Viel mehr geht nicht. Für seinen ersten Roman, »Unser Deutschlandmärchen«, erhielt er in diesem Jahr den Preis der Leipziger Buchmesse.
Viel mehr geht wirklich nicht.
Sie sprechen in unzähligen, kurzen, manchmal sehr kurzen Kapiteln, mit unterschiedlichen Stimmen. Sie erzählen ihr Schicksal. Sie beschreiben uns ihre, manchmal sehr fremde Welt.
Fatma ist sechzehn, als sie ein Mann »mit einem riesigen Kopf« aus einem bitterarmen Dorf in Anatolien, gegen ihren Willen heiraten soll. Ihr Vater ist schon tot, und die Mutter hat noch etliche Geschwister durchzubringen. Fatma geht ihr zuliebe nach Deutschland, nach Nettetal, am Niederrhein, im Westen von Nordrhein-Westfalen. Sie soll ein besseres Leben beginnen, »in einem Land, wo man das Geld von den Bäumen pflücken kann«. Dieses »bessere« Leben beginnt in einer kleinen, feuchten Wohnung mit Möbeln vom Sperrmüll. Ihr Mann ist schwach, das wenige Geld, das sie in der Fabrik verdienen, verleiht er, ohne Hoffnung es je wiederzusehen. Außerdem betrügt er sie. Doch scheiden lässt sich eine Frau nicht. »Eine geschiedene Frau ist Futter für versiffte Instinkte.« Und wenn sie, die starke durchsetzungsfähige Frau das Geld zurückfordert, muss sie sich anhören: »Vergiss nicht, dass du eine Frau bist. Bei fremden Männern anzuklopfen könnte deiner Ehre schaden.« So werden archaische, anatolische Überzeugungen in Deutschland weitergelebt. Fatma leidet darunter, keine Kinder zu bekommen. Endlich 1979 »findet meine vierzehnjährige Leere ihre Fülle.« Dinçer wird geboren und zwei Jahre später sein Bruder Özgür. Armut und Sorgen, für sie »wie eine Schleife (…) das Ende war nie zu finden«, sind danach, als die Kinder dem Leben einen Sinn geben, besser zu ertragen. Dincer, ein Einzelgänger, arbeitet schon als Kind auf einem Bauernhof, um die Familie zu unterstützen. Immer ist er für die, von der Mutter ungeliebte Familie da. Es sind die Männer, dabei auch ihr Ehemann, die sich auf vielen Gebieten versuchen, doch ausschließlich scheitern. So arbeitet Dincer als 12-Jähriger in einem als »Bar« bezeichneten Puff. Er wechselt dreckige Bettlaken und entsorgt gebrauchte Kondome. Als er wieder kein Geld dafür erhält, meint er klaglos: »Mein Verdienst ist der Eintritt in eine neue Welt, eine neue Welt mit sehr viel Synthetik und Gummi.« Jeden Sommer fährt die Familie mit einem bis unters Dach vollgestopften, altersschwachen Bus drei Tage und drei Nächte in die alte Heimat. Irgendwo im alten Jugoslawien gibt der Bus den Geist auf. Ein Lkw-Fahrer nimmt das Auto, für einen angemessenen Betrag, »Huckepack« und liefert ihn und die Familie im Heimatdorf ab. Immer wieder sind es die Frauen, die alles am Laufen halten, das verdiente Geld abliefern, die Kinder versorgen und sie erziehen. Fatma leitet daraus ganz klar ihre Ansprüche an ihren Sohn Dinçer ab: »Ich habe deinem Vater mein Ja-Wort gegeben, um meine Brüder, meine Mutter aus der Armut zu retten.« Nun soll Dinçer sie für alles erlittene Unrecht und Leid entschädigen. Du sollst, sagt sie ihm, »Häuser kaufen, Geschäfte machen, wozu dein Vater nie fähig war, ich habe mein ganzes Leben lang seine Schulden abbezahlt, du solltest einfach der Mann sein, der mir gefehlt hat, entschieden, kräftig, geschäftstüchtig, das war mein einziger Wunsch, war es zu viel verlangt?«
Eine schwere Bürde für einen heranwachsenden Jungen. Und Dinçer will etwas ganz anderes. Dinçer, der weint, wenn er hört, dass ein Kalb geschlachtet werden soll, weiß ganz genau, was er will: »Im Theater arbeiten, schreiben, Geschichten erzählen.« Er will kein Macho sein, kein Unterdrücker der Frauen. Die Mutter muss verstehen: »Je stärker du einen selbstsicheren Mann in mir sehen wolltest, desto mehr habe ich alles Maskuline abgelegt … War bereit, dass mich das Leben mit all seinen Werkzeugen neu schnitzt … Ich wollte nicht nach deinem Muster mein Leben verschwenden.« Das Schreiben gibt Dinçer Hoffnung und Bücher, die er liest, zeigen ihm, »dass ich mit meiner Melancholie nicht allein dastand«. »Das Schreiben hat mich gelehrt, dass es doch möglich ist, die Hülle zu vergessen und nach dem Kern zu suchen«. Güçyeter erzählt seine, für uns zum Teil sehr fremde Familiengeschichte, die sich über mehr als vier Generationen erstreckt, mit vielen Stimmen. Meist sprechen, abwechselnd und jeweils aus ihrer Sicht, Fatma und Dinçer. Wir lesen auch Träume und Gebete, ebenso Chöre und Gedichte. Es sind Stimmen von Einwanderern und in Deutschland geborenen Türken. Dinçer, jetzt mit den renommiertesten deutschen Literaturpreisen ausgezeichnet, wurde einst wegen seines schlechten Deutsch verspätet eingeschult. Demnächst wird man ihn in den Schulbüchern finden. Den deutschen Autor türkischer Herkunft: Dinçer Güçyeter. Einer, der unsere Literatur reicher gemacht hat.
Sigrid Lüdke-Haertel / Foto: Fatma und Dinçer, 2022, © Studio Oezguer Usak
Dinçer Güçyeter: »Unser Deutschlandmärchen«.
Verlag mikrotext, Berlin 2022, 216 S., 25 €