Staatstheater Darmstadt: Ovationen für Jasmin-Nevin Varul und ihre Performance »The Importance of Being Erna«

Minutenlang lässt sich die junge Frau im Haushaltskittel am Fenster über die Nachbarn aus. Grantig und in breitestem Pfälzisch: »Ahjoo!«. Dann ruft es gebrochen Deutsch aus dem Hinterzimmer »Setti, spielst du denn schon wieder deutsche Rentnerin?!« Setti heißt eigentlich Setareh und ist gebürtige Oggersheimerin mit türkischem Migrationshintergrund. Schon in der Schule, so erzählt sie, habe sie auf die Frage, was sie mal werden wolle, ganz entschieden als Berufsziel Rentnerin genannt. Denn das heißt: Immer auf dem Laufenden zu sein, was es in der Nachbarschaft und im Fernsehen gibt, Kreuzworträtsel lösen auf dem Sofa und Enten füttern im Park. Ein integrierterereres Deutsch-Sein, eine verinnerlichtererere Leitkultur lassen sich nicht denken als das und die von Setti vorgelebte in dem Solo »The Importance of Being Erna« auf der Betonparkettbühne des Kammerspiels im Darmstädter Staatstheaters.
Und trotzdem wird die von der politically korrekt besetzten Darstellerin Jasmin-Nevin Varul und dem Regisseur Lukas Schrenk entwickelte Schau in den Kammerspielen nicht die knallharte Politsatire, die man nach diesem Auftakt erwarten könnte. Sondern etwas ganz, ganz anderes. Schon ihr Titel ist erklärungsbedürftig und Oscar Wildes kürzlich hier noch gespieltes Theaterstück »Bunbury« entliehen, in dem ein Mann vorgibt, ein anderer namens Ernst zu sein und sich, weil er als Kind in einer Tasche vertauscht worden ist, denn auch als solcher entpuppt. Setti jedenfalls nennt sich Erna – und durchlebt mit uns und für uns singend, deklamierend und vor allem parodierend im Minutentakt Mädchenträume einer 72jährigen Oggersheimerin in den heute als golden geltenden 90er Jahren.
Vor allem aber ist ihre Erna eine hingebungsvolle Verehrerin des großen Stadtsohns Helmut, dessen Plakate ihr Zimmer mit Herzchen schmücken, dessen Lieblingsspeise sie vergöttert und als dessen Buchhalterin sie sich dann auch sieht. Was der Tambourmajor für Woyzecks Marie, das ist der Einheits-Kanzler für sie: »so ein Mann«. Als Kind ihrer Zeit ist Erna indes auch allen Schaugrößen des Fernsehens verfallen, gewinnt eine Traumschiffreise mit Franz Prager, ist bei Thomas Gottschalk, bei Biolek zu Gast, beantwortet eine X-tausend-Euro-Frage bei Günther Jauch und ist »immer wieder sonntags« bei Stefan Mross. Im Vorteil jedenfalls, wer sich auskennt am Schirm. Jasmin-Nevin Varul hat sie alle im Tank, und nicht nur die. In den ruhigeren Phasen gibt sie mit Gedichten die Heine-Liebhaberin, auch wenn dessen »Oggersheimer Elegien«, einem Speicherfund, aus dem sie in »Bares für Rares« zitiert, noch nicht als Original verifiziert sind. In lauteren Phasen singt sie mit blonder Helene Fischer-Perücke »Mein Herz schlägt Beige«. Dass uns Erna in den politischen durchaus eine Meinung zu »Remigration« und dem Kreuzworträtsellösungswort »Staatsbürgerschaft« hat, bleibt aber nur ein Farbtupfer in einem Riesenkessel Buntes, ein Leuchten in einem 80-minütigen Feuerwerk, dessen Uraufführung mit einer famoses Darstellerin vom Darmstädter Publikum vollkommen verdient mit stehenden Ovationen gefeiert wurde.

Winnie Geipert / Foto: © B. Weber
Termine: 10., 24. Mai, 19.30 Uhr
www.staatstheater-darmstadt.de

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