Immer am Rand lang: Anne Weber hat tatsächlich einen »Roman in Streifzügen« geschrieben

Sie ist in Offenbach am Main geboren. Sie lebt seit Jahrzehnten in Frankreich. Für »Annette, ein Heldinnenepos« erhielt sie 2020 den Deutschen Buchpreis. Ihre Bücher, im Wortsinn originell, sind erfolgreich und werden von der Kritik gefeiert. Das Neueste, »Bannmeilen«, erweist sich als wahres Kabinettstückchen. Denn die Dramatik der Handlung versteckt sich in der Beschreibung.

Die namenlose Ich-Erzählerin begibt sich mit ihrem Freund Thierry auf Streifzüge durch die Vorstädte von Paris. Die Franzosen nennen es »Peripherique«, diese Grenze zur »Banlieue«,
hinter der für die Pariser das Niemandsland beginnt: Lagerhallen, Fabriken, Bahngleise, Autobahnen und, dazu gehörig, Armut, Elend, kleine Dealer, echte Gangster, Arbeitslose.
Thierry ist Dokumentarfilmer. Er wurde in Seine-Saint-Denis, dem Department 93 geboren. Er ist dort aufgewachsen. Sein Vater ist Algerier. Nummer »neuf troi« ist noch immer die markanteste Problemzone der Banlieue. Es hat die höchste Kriminalitätsrate, die höchste Armutsquote. Genau dort aber entsteht, was Paris für die Sommer-Olympiade 2024 braucht, Stadien, Sportanlagen, das olympische Dorf.
Thierry will pünktlich zur Eröffnung einen Film fertig haben, der die Entstehung dieser neuen Pariser Gegend dokumentiert und zeigt, was die Menschen, die dort leben, davon halten.
Der Filmemacher und die Erzählerin sind ausschließlich zu Fuß unterwegs. Sie, die seit Jahrzehnten in Paris lebt, hatte, wie viele Pariser, die »Peripherique«, die Grenze, die die Stadt von den Vorstädten trennt, noch nie überschritten. In den Vorstädten leben hauptsächlich Algerier, Marokkaner und Schwarzafrikaner.
Auf ihren ausgedehnten, sich über Monate erstreckenden, oft kilometerlangen Märschen kommen sie an hässlichen Autobahnen vorbei, die brutal diese Gegend durchschneiden. Sie laufen über Schrotthalden, an riesigen Müllbergen entlang, an heruntergekommenen teils bewohnten, teils verlassenen Wohnblocks, an ausgebrannten Autowracks und an Sperrmüll, der anscheinend nie abgeholt wird. Wohin sie gehen und sehen, nur Armut, Gewalt, Trostlosigkeit. Selbst im Gestrüpp eines kleinen Kiefernwäldchens nichts als Müllhaufen. In regelmäßigen Abständen begegnen sie sogenannten »Chouffeurs«, die zwischen den Wohnblocks herumlungern und von den Drogendealern dafür bezahlt werden, Warnsignale zu senden, wenn Gefahr, also Polizei, droht.
Thierry kommt immer wieder auf verrückte Ideen: »Wir machen eine Reiseagentur auf … Mit uns kommen Sie auf die schönsten Müllhalden! … Alternativtourismus mit sozialem Touch, trashige Orte, wie Sie sie noch nie gesehen haben.«

So erfahren wir auch einiges über die Lebensbedingungen in den Vorstädten, über ihre Kultur und, aufgrund von Denkmälern, Gedenktafeln, Gebäuden, über die Geschichte und Politik. Wahrnehmung, Beobachtung und daraus folgend die Beschreibung einer völlig fremden Welt entwickeln eine seltsame Spannung. Die Rundgänge entwickeln eine ganz eigene Dramatik.
Muslime dürfen nicht auf den französischen Friedhöfen beerdigt werden. So liegt ein algerischer Marathonläufer, obwohl er einst für Frankreich eine Goldmedaille erkämpft hatte, vergessen auf diesem muslimischen Friedhof. An einem verlassenen Bahnhof entdecken sie eine Gedenktafel für die Juden, die von hier abtransportiert wurden. Sie sind erstaunt, dass sie auf diesen langen Märschen kaum je Cafés oder Restaurants finden. Als sie endlich einmal auf ein kleines Café treffen, werden sie es zu ihrer »Stammkneipe« machen und sich bald dazugehörig fühlen. Rachid, offensichtlich ein Algerier, der Cafébetreiber, der sich noch mit anderen Jobs über Wasser hält, leugnet es allerdings, Algerier zu sein und arabisch zu sprechen. Er gibt sich französischer als die Franzosen. Seine wenigen, meist dieselben Besucher, Sprücheklopfer, trinken viel und vertreten dann lautstark ihre immer klaren Meinungen. Sie sind gegen Streiks, Demonstrationen. Sie sind für mehr Ordnung. Und sie wissen: » die Politiker sind alle gleich«. Klar, dass die meisten wohl Le Pen-Wähler sind.
Die Erzählerin lernt durch die vielen Begegnungen und Gespräche die Menschen dort immer besser kennen und ist bald »süchtig« nach den ausgiebigen Erkundungsmärschen. Der »Roman«, eine Mischung aus Recherche, Reflexion und Fiktion, beschreibt die oft chancenlosen, sich selbst überlassenen Menschen feinfühlig, mit großer Toleranz und Empathie und stellt sie nie bloß. »Vielleicht ist auch das, was ich von unseren langen Wanderungen werde erzählen können, nichts als ein mit Nachdruck übermitteltes Mysterium.« Aber eins weiß sie genau, »dass unsere Streifzüge hier nicht enden, sondern dass wir erst am Anfang unserer Reise stehen und ich davon erzählen werde.«
Also warten wir erst einmal die kommende Sommer-Olympiade Paris 2024 ab. Bestens vorbereitet durch die »Bannmeilen« von Anne Weber.

Sigrid Lüdke-Haertel
Anne Weber: »Bannmeilen. Ein Roman in Streifzügen.«
Verlag Matthes & Seitz, Berlin 2024, 301 S., 25 €
Anne Weber liest aus »Bannmeilen« am 23. Mai, 20 Uhr in der Kakadu Bar im Staatstheater Mainz

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