40. Deutscher Krimipreis 2023

Die sechs besten Kriminalromane des letzten Jahres

Der Deutsche Krimipreis ist die älteste deutsche Auszeichnung für dieses Genre. Er wurde jetzt zum 40. Mal vergeben. Eine Jury aus Kritiker*innen und aus Buchhandel und Wissenschaft stimmt dafür über die besten Kriminalromane des Jahres ab. In den Kategorien National und International werden jeweils drei Romane gewürdigt, die inhaltlich originell und literarisch gekonnt dem Genre neue Impulse verleihen. Der Preis ist undotiert, aber sehr begehrt. Auch internationale Autoren sind darauf stolz und ihre Verlage, sogar in Australien, werben damit.

Hier die Preisträger im Schnelldurchlauf:

Andreas Pflüger: Wie Sterben geht (Suhrkamp)
Winter 1983. Auf der Glienicker Brücke ist alles bereit für den spektakulärsten Agentenaustausch der Geschichte. KGB-Offizier Rem Kukura – Deckname Pilger – soll gegen den Sohn eines Politbüromitglieds ausgetauscht werden. Mittendrin: Nina Winter, die Kukura als Einzige identifizieren kann. Doch auf der Brücke wird Nina in ein Inferno gerissen, und das Schicksal von ihr und Rem wird zu einer Frage von Krieg und Frieden zwischen den Supermächten.
Die Schriftstellerin Ulrike Schrimpf in CulturMag: »Ein Roman über Russland und den Kalten Krieg. Gleichzeitig ist er, losgelöst von Fragen der Politik, Geschichte und des Zeitgeschehens, ein übergreifender Roman über Freundschaft, Treue und Verrat, Sehnsucht und Verlust und eine Erzählung, in der Masken, Tarnungen und die Kunst und Philosophie des Verschwindens wesentlich sind. Ständig müssen Nina und ihre Mitstreiter sich verkleiden, schauspielern, Geschichten erfinden, lügen und betrügen und sich in der Masse auflösen, um nicht enttarnt zu werden. So, wie das essenziell zu ihrem Beruf dazugehört, ist es gleichzeitig ein Sinnbild auf die menschliche Existenz schlechthin, auf unsere – nach Shakespeare – wundervolle und schreckliche, unaufhörlich von der eigenen Sterblichkeit bedrohte‚ ›Weltenbühne‹: ›All the world‘s a stage, and all the men and women merely players.‹«

Monika Geier: Antoniusfeuer (Ariadne/Argument)
Kriminalkommissarin Bettina Boll ist Ärgernisse gewöhnt, doch der jüngste Streich ihrer Dienststelle schmeckt bitter. Ein Tod im Jugendknast muss untersucht werden, die Behörden fürchten einen Skandal, und nun soll Bettina für ihren neuen Chef die Kohlen aus dem Feuer holen und einem Kollegen dazwischenfunken. Überdies erweist sich der Fall als ausnehmend verschroben. Gibt es wirklich katholische Dorf-Aktivisten, die Dämonen austreiben? Und was hat das berühmte Isenheimer Altarbild voller bunter Bestien damit zu tun?
Der Krimiautor Robert Brack im CulturMag: »In Monika Geiers Romanen ist die scheinbar solide Realität nur eine Kulisse. Dahinter findet das wahre Leben und Sterben statt. Und hier erkundet sie düstere und verquere Aspekte der Normalität, die uns jedes Mal wieder eiskalt erwischen. In diesem Roman dauert es circa hundert Seiten, in denen wir auf das herrlichste eingelullt werden, bis die Erzählerin zur ersten schallenden Ohrfeige ausholt, und bei der bleibt es nicht, von da an geht es Schlag auf Schlag, in kunstvoller Dramaturgie … Die Autorin kennt ihre Pappenheimer (die klösterlichen und die verbrecherischen) und da sie auch den Geist des Katholizismus verstanden hat, ist es ihr gelungen, einen Roman über menschliche Irrwege zu schreiben, bei dessen Lektüre uns die Ahnung beschleicht, dass wir das Mittelalter (das Finstere!) nie verlassen haben, jedenfalls nicht in der katholischen Provinz.«

Kim Koplin: Die Guten und die Toten (Suhrkamp)
Saad und seine kleine Tochter Leila leben unterm Radar in Berlin. Saad verdient sein Geld als Wächter in einem Charlottenburger Parkhaus, aus gutem Grund in der Nachtschicht. In diesem Parkhaus steht auch der Luxusschlitten des Staatssekretärs Brasch, der mit dem Waffenhändler Müller und undurchsichtigen Saudis fiese Geschäfte macht. Als Brasch betrunken und zugekokst einen Verkehrsunfall baut und man zu seiner Überraschung eine Leiche in seinem Kofferraum findet, ist das ein Fall für die junge Kriminalkommissarin Nihal Khigarian.
Alf Mayer, CulturMag: »Die Weltstadt mit Schnauze bekommt hier den ihr würdigen Thriller. Klasse Sound, schmissig geschrieben, Berlin rund um die Uhr. Und endlich einmal stimmt der Klappentext: ›Zarte Lovestory und Hardcore-Kriminellen-Ballett in einem.‹ Als wäre es ein Homer für Eilige, faltet sich die Figurenkonstellation im Kung-Fu-Tempo auf. Mitten drin: Nihal, krasse Braut. Polizistin. Schießt mit links, schlägt mit links, aber schreibt mit rechts. Wasser hat ihr einfach zu wenig entgegenzusetzen, egal, wie viele Bahnen sie schwimmt. Einmal steigt sie übern Lenker vom Fahrrad ab, hat dabei noch Zeit, sich über eine Titulierung als Mieze aufzusteilen. Angelpunkt der rasanten Ereignisse ist ein seltsames Parkhaus in Charlottenburg, das räudigste der Stadt, ungewöhnliche Edelschlittendichte auf Ebene 5, Haschplantage auf dem Dach: Knesebeckstraße, det is Berlin. Wo der untergetauchte Saad als Parkwächter jobbt, sich um seine kleine Tochter sorgt, ein Staatssekretär mit waffenträchtigen Wüstenfuchs-Deals gerne parkt und allerlei Unterweltsschatten im Halbschwergewicht tanzen … Wie eine Flipperkugel schießt uns dieser Roman durch seine Gassen. Hier kann jemand Genre – und Milieu. Und Sprache. Intelligenter Lese-Spaß. Kein Wort zu viel. Fehlt nur das Streichorchester.«

40. Deutscher Krimipreis 2023

National
1.: Andreas Pflüger: Wie Sterben geht (Suhrkamp)
2.: Monika Geier: Antoniusfeuer (Ariadne/Argument)
3.: Kim Koplin: Die Guten und die Toten (Suhrkamp)

International
1.: James Kestrel: Fünf Winter (Suhrkamp)
2.: Megan Abbott: Aus der Balance (Pulp Master)
3.: Dennis Lehane: Sekunden der Gnade (Diogenes)

James Kestrel: Fünf Winter (Suhrkamp), deutsch von Stefan Lux
Dezember 1941: Joe McGrady, Detective beim Honolulu PD, wird mit der Untersuchung eines Falls beauftragt, der sein Leben für immer verändern wird: dem Mord an dem Neffen des Oberbefehlshabers der Pazifikflotte und dessen Freundin, einer jungen Japanerin. McGrady folgt einem Verdächtigen bis nach Hongkong, das gerade von den Japanern eingenommen wird. Er wird als Gefangener nach Japan verschleppt, als potenzieller Spion droht ihm der Tod. Gerettet wird er von dem Diplomaten Takahashi Kansei, der heimlich gegen die offizielle japanische Kriegspolitik arbeitet. Takahashi und seine Tochter Suchi verstecken McGrady bis zur Kapitulation Japans. McGrady kehrt nach Hawaii zurück und beginnt, nach nunmehr fünf Wintern und jetzt als Privatdetektiv, den alten Fall wiederaufzunehmen.
Alf Mayer hier im »strandgut«: »Dieses Buch zeichnet, als wäre es japanische Kalligraphie, menschliches Schicksal mit starkem, entschlossenem Strich, sagt wichtige und schöne Dinge mit wenigen Worten, schweigt und blendet ab in den richtigen Momenten, weiß um die Kraft dessen, was zwischen den Worten ungesagt bleibt. Seinen 499 Seiten zum Trotz hat es nichts von sich träge hin wälzendem Schmöker, die Erzählbögen sind elegant, entfalten sich wie ein ›kakemono‹, ein japanisches Rollbild. Manchmal kehrt man an den Anfang eines Kapitels zurück, um den Bogen noch einmal zu genießen … Der Roman ist filmisch, hat eine Nähe zum Film Noir. Schon auf Seite 18 steht eine Frau auf der obersten Stufe einer Treppe, vor dem hell erleuchteten Haus zeichnet sich ihre Silhouette ab. Einmal fühlt es sich für McGrady an, als säße er in einem Kino und schaue sich einen düsteren Film an. Und zum Showdown schafft der Böse sich ein perfektes Bühnenbild. Dieses Buch hallt nach, hinterlässt Bilder und Emotionen.«

Megan Abbott: Aus der Balance (Pulp Master), deutsch von Karen Gerwig und Angelika Müller
Dara hat ihr Leben im Schatten ihrer glamourösen Mutter verbracht. Zusammen mit ihrer Schwester Marie und ihrem Ehemann Charlie – dem ehemaligen Starschüler ihrer Mutter – leitet Dara jetzt die Ballettschule, die ihre Mutter einst gründete. So kultiviert ihre geschlossene Welt auch sein mag, ist sie doch auch geprägt von rücksichtslosem Ehrgeiz und einem intensiven Wettbewerb, den die Schwestern zwischen ihren Elev*innen befördern. Als nach einem Brand ein Bauunternehmer in ihr Leben tritt, um die Sanierung vorzunehmen, überwindet er die sorgsam bewachten Grenzen dieser Welt und setzt eine Kettenreaktion aus Verlangen, Verführung und Verrat in Gang.
Kirsten Reimers, die Organisatorin des Deutschen Krimipreises, im »Freitag«: »Präzise und schnörkellos erkundet die Autorin die toxischsten Abgründe von Familienstrukturen und Beziehungen, von Wünschen und Sehnsüchten. Dabei geht es um weit mehr als nur das Auseinanderfallen von hässlichem Sein und glänzendem Schein: Abbott zeigt das untrennbare Ineinander von Kunst und Kommerz, von Tradition und Moderne, Schönheit und Selbstzerstörung, Liebe und Hass, Sex und Gewalt.«

Dennis Lehane: Sekunden der Gnade (Diogenes), deutsch von Malte Krutzsch
Boston, 1974. Die Stadt kocht. Künftig sollen schwarze Kinder mit Bussen in weiße Schulen gebracht werden und vice versa. Angst geht um und Hass. Eines Nachts kehrt Mary Pat Fennessys 17-jährige Tochter Jules nicht nach Hause zurück. Mary Pat beginnt Fragen zu stellen, stößt auf Schweigen und Widersprüche, bis sie versteht: Man hat ihr das Letzte genommen, was ihr in dieser Welt Halt gab. Außer sich vor Schmerz macht sie sich auf, um Rache zu nehmen an den Verantwortlichen – und um ihre eigene Schuld abzutragen. Um jeden Preis.
Sonja Hartl, CulturMag: »In diesem Buch sind alle Zutaten, die man von Dennis Lehane erwartet: Es spielt in den weißen Arbeitervierteln von Boston, es gibt einen Cop, der im Krieg war, seine Drogensucht überwunden hat und nun die Chance auf eine Romanze bekommt. Und ein Elternteil, das sein Kind rächt. Mary Pat ist eine überzeugende Figur: Sie ist entschlossen, mutig, in ihrer Wut konsequent. Sie erkennt, dass es letztlich immer nur um zwei Dinge geht: Macht und Geld. Nicht nur im Umgang mit den vermeintlich Anderen, sondern auch innerhalb enger Gemeinschaften, die von Männern kontrolliert werden. Was passiert, wenn diese Männer merken, dass ihre Regeln sie nicht mehr schützen, schafft einen herrlichen bitterbösen Abschluss für ihren Rachefeldzug.«

Alf Mayer
P.S.: Alf Mayer gehört der Jury seit 1985 an.
Weitere Informationen zum Preis und Archiv: www.deutscher-krimipreis.de

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