Andreas Pflüger: »77 Filme fürs Leben«

Filme sind Lebensmittel. Ein Portal zu neuen Möglichkeiten, eine Tür ins Ich und in die Welt. Man kann viele Leben leben, längere und kürzere, hat der große Borges über Literatur und Kino gesagt. Dort gibt es jene Dinge zwischen Himmel und Erde, von denen sich unsere Schulweisheit nichts träumen lässt. Im Kino erleben wir uns größer als wir selbst. Im Kino werden wir wer wir sind. Das mag man für übertrieben halten, tatsächlich spielt unsere Kultur den medialen Einfluss und erst Recht den des Kinos auf unsere Biografien eher herunter. Ich hingegen stelle mir Historiker vor, wie sie eines Tages auf das Buch »Herzschlagkino« von Andreas Pflüger stoßen und daraus endlich zu rekonstruieren vermögen, was es mit dieser Leidenschaft für »Filme« im 20. Jahrhundert so auf sich hatte – als das Kino noch das Kino war und unser Sehen noch kein Zappen oder Streaming.
So deutlich und vielfältig hat noch kein Schriftsteller und Drehbuchautor seine Kinoerfahrungen mit der eigenen Biografie und der eigenen Profession in Beziehung gesetzt und verknüpft. Es ist Pflügers persönlichstes Buch, eine Art Autobiografie anhand von Lieblingsfilmen – und seit William Goldmans »Adventures in the Screen Trade« (1983) der vergnüglichste Einblick ins Filmhandwerk, den ich derart kondensiert kenne. »Frag dich bei jeder einzelnen Szene, was das Schlimmste wäre, das deiner Hauptfigur passieren könnte«, habe ihm einst sein Mentor geraten, der große Frantisek Daniel, verrät Pflüger. »Mich trägt das bis heute.«
Pflügers »77 Filme fürs Leben«, so der Untertitel, sind wunderbare Miniaturen, bunt und funkelnd und von scheinbar leichter Hand hingestreut. Pustekuchen, so etwas ist natürlich Arbeit. Jeder der 77 Filme hat eine Doppelseite im Buch, Credits inklusive. Klugerweise hat der Verlag auf Bilder verzichtet, sie entstehen eh durch die Kunst des Autors vor unserem Auge. Sei es, dass er eine bestimmte Szene evoziert oder eine Stimmung. Vor allem aber, weil er uns auch Platz für Eigenes lässt.
Pflüger, der nie eine Filmakademie besucht und sich das Drehbuchschreiben als kompletter Autodidakt selbst beigebracht hat, ist ein leidenschaftlicher Filmliebhaber – kein Cineast. Er braucht es überlebensgroß und sagt: »Kino muss alle meine Sinne kitzeln, dann bin ich glücklich. Das erwarte ich im Übrigen auch von Literatur: Überwältigung. Handwerk ist für mich das Entscheidende. Das ist die Grundlage für alles. Wenn es damit hapert, bin ich schnell verstimmt.«
Manche seiner Lieblingsfilme hat er zwanzig bis fünfzig Mal gesehen. »Etwas in- und auswendig zu kennen und immer wieder neu zu entdecken: Das ist Magie«, schreibt er zu »Amadeus«. Immer wieder verknüpft er Filme mit dem eigenen Werdegang, gibt Einblicke ins Schreib- und Filmhandwerk, scheut sich nicht vor deutlichem Urteil. Und vor Bekenntnissen. Über »Die Firma« etwa heißt es: »Hier wird das Seelenheil von Menschen verhandelt; das suche ich in jedem Film und Roman, jedem Gemälde.« Wenn das keine Einladung ist …

Alf Mayer
Andreas Pflüger: Herzschlagkino. 77 Filme fürs Leben. Arche Literatur Verlag, Zürich 2023. Hardcover, 176 Seiten, 17 €

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