600 Meilen zu Fuß: »Die unwahrscheinliche Pilgerreise des Harold Fry« von Hattie Macdonald

Zu einem Roadmovie gehört normalerweise ein Auto. Ohne Auto, wenn der Weg zu Fuß zurückgelegt und zudem eine christliche Tradition befolgt wird, spricht man von einer Pilgerreise (am berühmtesten ist die auf dem Jakobsweg). Von einer säkularen Pilgerreise, die keinen Wallfahrtsort zum Ziel hat, sondern eine einstige Freundin, die im Sterben liegt, erzählt
die britische Regisseurin Hattie Macdonald nach einem weltweit erfolgreichen Roman
von Rachel Joyce.

Der 1949 geborene Jim Broadbent, der sich uns aus zahlreichen Filmen als typischer Engländer eingeprägt hat und auch dem Hörbuch zum Roman seine Stimme gegeben hatte, war erste Wahl für den Rentner Harold Fry. Mit seiner Ehefrau Maureen, die von der vor allem aus »Downton Abbey« präsente Penelope Wilton gespielt wird, führt er ein ruhiges Leben in der südenglischen Provinz. Als er erfährt, dass seine frühere Arbeitskollegin in einem Hospiz dem Tode nahe ist, schreibt er ihr einen Brief.
Den will er nur kurz zum Briefkasten bringen. Das sagt er seiner Frau. Doch vor dem Briefkasten zögert er, ihn einzuwerfen. Weiteren Zweifel, ob ein schriftlicher Abschied angemessen ist, schürt eine junge Verkäuferin, die Harold erzählt, sie habe ihrer an Krebs erkrankten Tante mit Erfolg Hoffnung gegeben. Sie bestätigt gewissermaßen Harolds innere Stimme, dass er mehr tun müsse, als einen Brief zu schicken, von dessen Inhalt er selbst nicht überzeugt ist.
Die Romanautorin Rachel Joyce, die selbst auch das Drehbuch verfasst hat, und Hattie Macdonald, die das alles ins Bild gesetzt hat, haben sich also Mühe gegeben, Harolds über 600 Meilen langem Fußmarsch quer durch England – von Devon nach Berwick-upon-Tweedan an der schottischen Grenze – glaubwürdig zu begründen.
Harold, die Filmfigur, wirkt zunächst so, als wüsste er selbst nicht so recht, wie ihm geschieht. Und später ist er nur noch auf das Ziel fixiert, im Hospiz anzukommen, bevor Queenie Hennessy (Linda Bassett), mit der er gemeinsam in einer Brauerei gearbeitet hat, gestorben ist. Davon lässt er sich auch nicht von seiner Frau abbringen, die ihm nachgereist ist, um ihn zur vorzeitigen Rückkehr zu bewegen. Daheim fühlte sie sich verlassen, vom Leben ihres Mannes ausgegrenzt. Sie sah sich gezwungen, vor dem Nachbarn Harold als bettlägerig auszugeben. Das Leben mit ihrem Mann gewinnt eine neue Bedeutung für sie.
Für fremde Menschen wird Harold bald eine Berühmtheit. Das fängt ganz privat an, mit einer eingewanderten Ärztin, die kein Aprobation bekommen hat und als Putzfrau in England arbeitet. Sie pflegt Harolds geschundene Füße, lässt ihn in ihrer Wohnung schlafen und stattet ihn mit ein paar Sachen aus, die ihr Ex hinterlassen hat.
Später erscheint Harold auf den Titelseiten der Boulevardpresse und in den Nachrichten, was Maureen noch mehr erzürnt. Er wird auf der Straße erkannt, ein junger Mann schließt sich ihm an, man fotografiert ihn, sogar ein herrenloser Hund trottet eine Weile mit. Später versammelt sich eine Gruppe um ihn, die er abschütteln kann. Er wird zum Vorbild in einer Welt, die unablässig nach Orientierung sucht. Wenn die Menschen die Religion verloren haben, brauchen sie eben einen Ersatz, und wenn er Harold Fry heißt.
Als sein Ruhm verflogen ist und er um ein Glas Wasser bittet, bekommt er zu spüren, wie ein Landstreicher behandelt wird. So zeichnet der Film ganz nebenbei auch ein Bild von England, von den Menschen und von der malerischen englischen Landschaft. Zum Ende hin, als zwei Geheimnisse aufgedeckt werden, erhält Harolds Pilgerreise eine tiefere Begründung. Es geht um seinen Sohn David (Earl Cave), dessen Geschichte in Rückblenden erzählt wird, und um die Rekonstruktion einer Liebesbeziehung. So führt die die Reise zu einer längst aus den Augen verlorenen und verdrängten Kollegin letztendlich zu Maureen, der Frau an Harolds Seite.

Claus Wecker
>> TRAILER
DIE UNWAHRSCHEINLICHE PILGERREISE DES HAROLD FRY (The Unlikely Pilgrimage of Harold Fry)
von Hettie Macdonald, GB 2023, 108 Min.
mit Jim Broadbent, Penelope Wilton, Earl Cave, Linda Bassett, Daniel Frogson, Naomi Wirthner
nach dem Roman von Hettie Macdonald
Drama / Start: 26.10.2023

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