Nach »Treasure – Familie ist ein fremdes Land«, dem Film über die Polenreise eines Holocaust-Überlebenden und seiner amerikanischen Tochter, kommen jetzt zwei Cousins aus New York im Gedenken an ihre verstorbene jüdische Großmutter nach Polen. Die beiden jungen Männer, die als Kinder eng befreundet waren, sich aber viele Jahre nicht gesehen haben, wollen ihren Polentrip dazu nutzen, sich wieder näherzukommen.
Schon bei ihrem Wiedersehen auf dem New Yorker Flughafen wird deutlich, dass sich zwei äußerst unterschiedliche Charaktere treffen. David, der vom Drehbuchautor und Regisseur Jesse Eisenberg selbst gespielt wird, ist ein Verkäufer von Internetwerbung, ein etwas verklemmter New Yorker Intellektueller mit Frau und Kind, der bemüht ist, seine Zwangsstörungen einigermaßen im Griff zu halten. Es ist wieder ein maßgerechter Auftritt des großen Zauderers Eisenberg geworden.
Kieran Culkin spielt Davids Cousin Benji, ein großes Kind, das seinen Gefühlen freien Lauf lässt. Das wird auch zu überraschenden Situationen führen, die für David ziemlich unangenehm werden. Die Figur des impulsiven Benji treibt die Handlung voran und gibt Culkin nach dessen Auftritten in leichten Mainstream-Komödien eine Gelegenheit, in einer vielschichtigen Rolle zu brillieren.
In Warschau angekommen, schließen sich die beiden einer Heritage Tour an, in der Oxford-Absolvent James (Will Sharpe), ein bemühter Philosemit, jüdische Touristen zu verschiedenen Holocaust-Gedenkstätten im Lande führt.
In der Gruppe befinden sich u.a. die attraktive, gerade geschiedene Marcia (Jennifer Grey) sowie der Afrikaner Eloge (Kurt Egyiawan), der den Völkermord in Ruanda überlebt hat und sich seitdem zum Judentum hingezogen fühlt. Dass die Tour eine Herausforderung ist, für die es eine solidarische Stimmung braucht, und Reiseführer James bisweilen ziemlich bemüht wirkt, den richtigen Ton zu finden, bedarf wohl keiner Erklärung.
Mit dem Blick auf die persönlichen Probleme heutiger Zeitgenossen, deren Familien von den Naziverbrechen in unterschiedlicher Weise betroffen wurden, handelt »A Real Pain« von der Erinnerungskultur. Ob Benjis einstiger Selbstmordversuch, von dem David der Gruppe berichtet, etwas mit den Naziverbrechen zu tun hat, bleibt offen.
Jedenfalls kommt der Film zu einem erstaunlich differenzierten Bild. Denn jeder Teilnehmer in der Reisegruppe reagiert anders, wenn er an die Orte, an denen jüdisches Leben ausgelöscht wurde, geführt wird. Am heftigsten trifft es Benji, der darunter leidet, in der ersten Klasse jener Eisenbahn zu fahren, die vor achtzig Jahren Menschen in Viehwagen-Zügen in den Tod befördert hat. (Das Motiv taucht übrigens auch in »Treasure« auf.)
Andererseits macht sich Benji über ein monumentales Denkmal lustig, mit dem im Stil des sozialistischen Realismus des Warschauer Aufstandes gedacht wird. Kurzerhand bringt er seiner Begleiter dazu, die Kampfszenen vor dem Monument nachzustellen und dabei eine Menge Spaß zu haben. Er wagt es also, eine allgemeine Befangenheit aufzulösen.
Indem der Film verschiedene Formen zeigt, mit den Gefühlen, die das Menschheitsverbrechen der Nazis hervorruft, umzugehen, entzieht er sich jeder politischen Inanspruchnahme.
Eisenberg, der selbst aus einer polnisch-jüdischen Familie stammt, erzählt in erster Linie von dem Versuch, eine alte Beziehung zwischen zwei gegensätzlichen Männern wieder zu beleben. Vielleicht war das Vorhaben für beide zu anspruchsvoll mit den Milliarden zerstörter Beziehungen im historischen Hintergrund. Ob es am Ende gelungen ist, bleibt offen. Während David zu seiner Familie zurückkehrt, bleibt Benji allein im geschäftigen Flughafen zurück. »Real Pain« ist ein tief beeindruckender Film mit mehreren Themen. Eines davon ist die existentielle Einsamkeit der Protagonisten.