Winterzeit ist Märchenzeit, und so ist es gute Tradition, dass während der kalten, dunklen Tage alljährlich Ensembles durch Deutschland touren, die die großen Ballettklassiker wie »Schwanensee« und »Nussknacker« auf die Bühne bringen. Eine schöne Ergänzung zum sonstigen Tanzprogramm, zumal gerade im Rhein-Main-Gebiet Handlungsballette Mangelware geworden sind. Seit dem Weggang von Hauschoreograf Tim Plegge vor knapp drei Jahren verzichtet auch das Hessische Staatsballett in Wiesbaden und Darmstadt auf solche bewegten Geschichten; bei den anderen beiden großen Truppen, Tanzmainz oder der Dresden Frankfurt Dance Company, sind sie sowieso nicht zu finden.
Im Schönen zu schwelgen, das stellt gerade in diesen schwierigen Zeiten eine willkommene Abwechslung vom Alltag dar. Doch da es überwiegend Kompanien aus der ehemaligen Sowjetunion sind, die das Tschaikowsky-Erbe pflegen, sind deren Auftritte im westlichen Europa seit dem Beginn des Ukraine-Krieges deutlich zurückgegangen. Wer nicht direkt aus Russland stammt, nimmt Abstand von den Werken zur Musik des Komponisten aus Wotkinsk. Zu den wenigen, die damit noch unterwegs sind, zählt das Kiew Grand Ballett, das im Januar in die Frankfurter Jahrhunderthalle zurückkehren wird. Zum dritten Mal reist es mit aufwendigen Kostümen und Kulissen durch Deutschland, um das Publikum zu verzaubern. Die Kompanie von Alexander Stoyanov, die in der Hauptstadt am Dnepr gegründet wurde, war außerhalb der eigenen Heimat unterwegs, als die Invasion am 24. Februar 2022 begann, und strandete schließlich in Paris. Dank Solidaritätsaktionen konnte sie weiter auftreten und die Sage des Prinzen Siegfried weiterverbreiten, der sich in die Prinzessin Odette verliebt, die von einem Zauberer in einen Schwan verwandelt wurde. In Pastellfarben gemalte Säulen an der Seite stellten vor zwei Jahren den Ballsaal eines Königspalastes dar. Im Hintergrund thronte auf einem spitzen Felsen inmitten eines Gewässers eine Burg.
Mit der Opulenz, die mancher in der Erinnerung mit »Schwanensee« verbindet, hatte das wenig zu tun, und auch die Musik vom Band entfachte nur schwer Magie. Vor allem jedoch waren es die blassen und unsicheren Protagonisten, die in der anspruchsvollen Choreografie von Marius Petipa und Valery Kovtun enttäuschten, wäre da nicht Mie Nagasawa gewesen. Die grazile Japanerin, die auch diesmal wieder dabei sein wird, weiß ihr Publikum vom ersten Moment an zu bezaubern. Bis in die Fingerspitzen hinein strahlt sie Anmut aus; mit jeder Geste, jeder Kopfhaltung erinnert sie als Odette an einen sich schüchtern zierenden Entenvogel. Doch sie kann auch ganz anders und fegt als Odile selbstbewusst und energiegeladen durch den Raum.
Die Rolle der Odette übernimmt diesmal allerdings eine Gasttänzerin: Die Argentinierin Ana Sophia Scheller, die einst als Solistin am New York City Ballett engagiert war, wird mit all ihrer Erfahrung versuchen, die Menschen einen Abend lang zum Träumen zu bringen.