Wenn man einer Theaterinszenierung attestiert, dass das Beste daran der Film und die Videos und die Musik sind, dann versteht man das normalerweise nicht als Lob. Aber in diesem Fall ist es das, und zwar ganz ausdrücklich. Antje Schupp hat sich der schwierigen Aufgabe gestellt, aus dem mit dem Buchpreis 2020 geadelten Roman »Annette, ein Heldinnenepos« von Anne Weber ein Bühnenstück zu formen – aus einem Text, der in vielfach gebrochener Versform daherkommt, in einer hohen, weihevollen Sprache, mit Alltags-Slang durchsetzt, deklamiert von einer allwissenden Erzählstimme, die nicht aufhören kann zu bewerten. Wirklich schwer! Es sind so viele verkapselte Fallstricke darin, dass man sich wundert, warum Anne Weber nicht einfach grade heraus erzählt hat – aber nein, sie wollte Anne Beaumanoir ein Heldinnen-Epos widmen, weil für solche Frauen wie Anne nie Heldinnenepen geschrieben worden sind. Auf Deutsch liegt ihre zweibändige Autobiografie mit dem Titel »Wir wollten das Leben ändern« vor, sie selbst ist Unterrichtsstoff in französischen Schulen.
Die Regisseurin und ihr Team haben den Textblock auf vier Schauspieler*innen verteilt (Berna Celebi, Gabriele Drechsel, Béla Milan Uhrlau, Edda Wiersch). Flüsternd, fluchend, deklamierend, schreiend versuchen sie auf der sparsam beleuchteten, zunächst nur mit zwei Schreibtischen möblierten Bühne dieser Anne auf die Spur zu kommen, aus dem Heldinnenepos eine Frau entstehen, die Buchstaben lebendig werden zu lassen. Und das gelingt ihnen. Kein Papier raschelt da, keine Feier des Gutmenschentums stört die Heraufbeschwörung dieser unglaublichen Biografie von Anne Beaumanoir, die sie da gemeinsam wie in einer journalistischen Recherche zusammensetzen.
Im Jahr 1923 in einen liebevollen und politisch widerständigen Haushalt hineingeboren, arbeitet sie mit 17 Jahren bereits für die Résistance, schließt sich der Kommunistischen Partei Frankreichs (PCF) an, rettet eine jüdische Familie, wofür sie 1996 in Yad Vashem als »Gerechte unter den Völkern« geehrt wird, arbeitet nach Kriegsende für den Befreiungskampf in Algerien. Sie studiert, wird Neurologin, lernt Frantz Fanon und Ahmed Ben Bella kennen, bekommt drei Kinder von verschiedenen Männern, lebt klandestin, jahrzehntelang bedroht von Einsamkeit, Verhaftung, Folter, Tod. Im hohen Alter noch besucht sie Schulen und Universitäten, um von ihrer Biografie zu berichten. Es sind zu viele Leben für ein einziges, möchte man denken. Auf zwei Pfaden bewegt sie sich durch ihre Welt: Der eine ist die Aufopferung für Bedrohte und Verfolgte, der andere ist Unterwerfung unter politische Maxime –in diesem Fall der PCF.
Antje Schupp löst diesen Mehrwert auf, indem sie Anne Beaumanoir ein Filmgesicht gibt, das Gesicht der Schauspielerin Lola Giouse, einer schön-herben androgynen Erscheinung. Alle Zweifel, alle Verzweiflung, alles Wehren gegen den Stillstand spiegeln sich in diesem Gesicht, in diesem endlosen Gehen und Laufen, in dem Umherirren, im Warten. Während also die Akteur*innen auf der Bühne sich in szenischen Verdichtungen in einem sehr klug möblierten Bühnenbild (Christoph Rufer) gruppieren, das mit allerknappsten Mitteln eine Form von plausibler Handlungsbebilderung übernimmt, sind als zweite Ebene Videos und Filmaufnahmen (Ayman Nahle) eingezogen. Nicht nur Annes Gesicht als Seelenlandschaft, auch eine Verortung der Handlung findet auf dieser Ebene statt, die tatsächliche (Paris, Marseille, Lyon, bretonische und südfranzösische Landschaften) und die historische: Szenen aus der weltberühmten »Schlacht um Algier«, Dokumentaraufnahmen von den gewalterfüllten Demonstrationen in Algerien. Das zeigt das Team um Antje Schupp vor einer großbürgerlichen Sofa-Idylle als wären wir bei Martha Rosler.
Und was dem Team ebenfalls glückt, ist die Verknüpfung der historischen Persönlichkeit von Anne Beaumanoir mit der heutigen Wirklichkeit. Graffitis beherrschen die Lyon-Film-Szenerie; die schweizerischen Rapperinnen La Gale und KT Gorique schleudern ihre kraftvolle Energie ins Publikum, mit einem fast religiösen Unterbau der Auflehnung (Musik: Martin Gantenbein). Die Darmstädter Inszenierung arbeitet glasklar heraus, wo heute der Handlungsbedarf liegen kann, liegt. Wir nehmen mal an, Anne Beaumanoir – die übrigens nie Heldin sein wollte – hätte sich mit dieser interpretatorischen Adaption sehr wohl gefühlt.
Übrigens: Die Dramaturgin Karoline Hoefer hat dazu ein Programmheft vorgelegt, das prägnant viele Fragen vertieft.