Jüdisches Museum: Die Mirjam-Pressler-Ausstellung »Schreiben ist Glück«

Veranstaltungen zu Mirjam Pressler erinnern manchmal auch daran, dass Anne Frank ihr berühmtes Tagebuch auf Niederländisch geschrieben hat und gewiss auch in der Sprache des Landes dachte, in das ihre Eltern mit der Vierjährigen 1933 aus Frankfurt geflohen waren. Das aber nur am Rande. Mirjam Pressler, die den Auftrag zu einer Neuübersetzung von »Het Achterhuis« vom Anne Frank Fonds erhielt, war bis dahin nur als Autorin von Kinder- und Jugendbüchern bekannt, was sich mit dem Erscheinen dieser Tagebuch-Übersetzung 1987 schlagartig änderte. Gravierend geändert hat sich für Pressler dabei auch die Sicht auf Anne Frank und das von dieser selbst immer wieder überarbeitete Tagebuch. Über ihre Bedeutung als historisches Zeitdokument hinaus wertet sie die Aufzeichnungen aus der Prinsengracht 263–267 in Amsterdam als das literarische Werk einer angehenden Schriftstellerin.
In der wesentlich auf einem Teilnachlass der 2019 im Alter von 78 Jahren verstorbenen Autorin und Übersetzerin basierenden Ausstellung »Schreiben ist Glück« des Jüdischen Museums Frankfurt gilt Anne Frank einer der sieben Träume, die uns in sieben miteinander verschachtelten Räumen das erstaunliche Leben und Wirken Presslers vor Augen führen. Mit vielen erstmals gezeigten Dokumenten, Gemälden, Zeichnungen, Fotos, Audio- und Filmmitschnitten, Texten, Büchern, Mitmachstationen und privaten Requisiten. Die anderen Träume gelten Israel, dem Judentum, dem Schreiben, dem Übersetzen, der Mutterschaft und – man staune – dem Malen.
Der Traum vom Malen gehört zu den Überraschungen dieser so verwirrend vielfältigen wie übersichtlichen Schau im Untergeschoss des Hauses, bewarb sich Mirjam Pressler, die damals noch Marianne Gunkel hieß, doch schon als 16-jährige Schulabbrecherin erfolgreich bei der Frankfurter Städelschule. 1940 unehelich in Darmstadt geboren und dann in Seeheim und Bensheim aufgewachsen, hat sie so ziemlich das Gegenteil einer wohlbehüteten Kindheit erlebt. Den Vater hat sie nie kennengelernt, ihre Mutter war aus Gründen, die wir nicht wissen wollen, mit ihrer Erziehung überfordert, sodass die kleine Marianne zu einer Pflegefamilie und später in ein Internat kam. Dass sie in den 50er Jahren das Gymnasium besuchen durfte, lässt ahnen, wie begabt, aber auch wie selbstbewusst dieses Mädchen von jeher gewesen sein muss. Schon ihre handschriftliche Bewerbung für das Studienfach »Freie Grafik« 1956 setzt ein gehöriges Maß an Chuzpe voraus. Neben diesem Schreiben und der anderthalb Jahre später folgenden Empfehlung der Städelleitung an die Mutter, Marianne wegen fehlender Begabung von der Schule zu nehmen, steht eine Auswahl von Gemälden und Zeichnungen zur Ansicht, die es schwer macht, dem Urteil des Kunstprofessors zu folgen. Die verstörende Zeichnung »Meine Mutter als Kind« ist hier das auffälligste Werk. Auch ihre Mutter, die Pressler an anderer Stelle als »ziemlich asozial« bezeichnet, kam unehelich zur Welt.
In den Sechzigern zog Miriam Pressler nach München, bereiste Israel (1962) und konvertierte ihren Namen wechselnd, noch bevor sie den israelischen Fotografen Yehuda Pressler heiratete (1964), zum jüdischen Glauben, ohne aber jemals religiös zu werden. Eine Scheidung (1970) und drei alleinerzogene Töchter hat die sich und ihre Familie in den Folgejahren als Jeans-Laden-Betreiberin und Sekretärin Verdingende hinter sich, als sie mit knapp 40 Jahren wie aus dem Nichts ihr literarisches Werk in Angriff nimmt. Wie das war, en famille, ist in einem rührenden Filminterview der Kuratorin Franziska Krah mit ihren Töchtern nachzuverfolgen. Gleich ihr Debüt »Bitterschokolade« wird mit dem Oldenburger Kinder- und Jugendbuchpreis prämiert. einem Dammbruch gleicht ihre nun überbordende Produktivität. In den zweiten 40 Jahren ihres 2019 endenden Lebens summiert sich Presslers unentwegtes Schaffen auf rund 40 Bücher und 350 literarische Übersetzungen aus dem Englischen, dem Niederländischen und dem Hebräischen, darunter die Romane von Amos Oz. Sprachen, das wundert schon gar nicht mehr, hat Pressler nie studiert.
Man kann sich durch diese sieben Räume treiben lassen, sich in Leseecken zurückziehen, um zu erfahren, wie stark ihre Kinderbücher die missliebigen Erfahrungen ihres eigenen Lebens reflektieren. Wie die verhöhnte Ilse in »Novemberkatzen« (1982), einem ihrer bekanntesten Titel. Da gibt es keine Idyllen, sondern immer nur Kämpfe und tausend Hindernisse, die aber zu meistern sind, wie die Mut-Macherin ihrer jungen Leserschaft zeigt.
Einem Video mit ihr entnehmen wir, dass erst die Beschäftigung mit Anne Frank sie dazu brachte, auch für Erwachsene und über jüdische Themen zu schreiben. Ihre Anne-Frank-Biographie (1992) und die zum Titel von Frankfurt-liest-ein-Buch avancierte » Grüße und Küsse an alle. Die Geschichte der Familie von Anne Frank« (2009) (mit Gerti Elias verfasst), stehen dafür. Auch sehr eigenwillige Adaptionen von Lessings »Nathan« oder Shakespeares »Shylock«. Zu den besonderen Exponaten des ungemein abwechslungsreichen Parcours‘ gehört auch ein mit der Verpackung einer Milka-Tafel und einem zerfledderten Luftballon beklebter Stuhl, den Pressler für eine häusliche Schnitzeljagd mit ihren Kindern hergerichtet hatte. Es ist eine Leihgabe ihrer Töchter. Hier dient er dazu, die Geschichte des Heimkindes Halinka in »Wenn das Glück kommt, muss man ihm einen Stuhl hinstellen« (1995) zu illustrieren.
»Schreiben ist Glück« spricht gleichermaßen jüngeres und älteres Publikum an. Wo wollte oder sollte man auch für die Aufforderung, Presslers unumstößlich positive Lebenshaltung zu teilen, ein Alterslimit setzen?

Lorenz Gatt / Foto: Mirjam Pressler, 1980er, © Andrea Grosz
Bis 1. September: Di.-So. 10– 17 Uhr, Do. 10–20 Uhr
www.juedischesmuseum.de

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