»Anora« von Sean Baker

Sean Baker gehört zweifellos zu den kühnsten amerikanischen Regisseuren. Bekannt geworden ist er durch seine ebenso provokativen wie einfühlsamen Filme über gesellschaftliche Randfiguren wie die Trans-Prostituierte in dem mit Smartphone gedrehten »Tangerine L.A.«, die Sozialfälle am Rand von Disney World in »The Florida Project« oder den ehemaligen Pornostar in »Red Rocket«. In seinem neuen Werk lässt er eine Stripperin auf einen russischen Oligarchensohn treffen, der mit dem Geld seines Vaters nur so um sich wirft.

Die 23-jährige Anora (Mickey Madison), die Ani genannt werden will, arbeitet in einem New Yorker Sex-Club. Sie tanzt vor den männlichen Gästen und geht auch im Séparée mit Kunden zur Sache. Dem Treiben im Nachtclub widmet Baker etliche Minuten. Er lässt sich viel Zeit, wenn er die sich ständig wiederholenden Rituale zeigt.
Weil Ani usbekische Wurzeln hat und Russisch versteht, auch wenn sie’s nicht gut sprechen kann, wird Ivan (Mark Edelshteyn) zu ihr geführt. Beide tauschen die üblichen Floskeln aus, die auch beim Kennenlernen auf nichtkommerzieller Basis üblich sind.
Dass Iwan der Mann sein könnte, der es ihr ermöglichen würde, das Etablissement zu verlassen, wird Ani erst langsam klar. Einen Kunden an sich zu binden ist zwar das Ziel der meisten konkurrierenden Mädchen, aber Ani hatte sich nicht einen rüpelhaften jungen Russen in dieser Rolle vorgestellt.
Ivan findet jedenfalls Gefallen an Ani, er kommt wieder, lädt sie in die Superluxusvilla seiner abwesenden Eltern ein und fliegt mit ihr und einer Gruppe junger Leute im Privatjet nach Las Vegas, wo beide spontan heiraten. Nun beginnt eine atemlose Screwball Comedy, denn der New Yorker Toros (Karren Karagulian) , der von Ivans Eltern engagiert worden ist, muss nach Russland melden, dass er wieder einmal als Aufpasser versagt hat. Er schickt seine Gehilfen Igor (Yura Borisov, eventuell bekannt aus Abteil Nr.6) und Garnick (der armenische Komiker Vache Tovmaysan) in die Luxusvilla, in der Ivan und Ani ihre Zweisamkeit genießen.
Mit Gewalt dringen sie in das Haus ein und mit Gewalt wollen Sie an die Heiratsurkunde kommen, haben aber nicht mit Anoras Widerspenstigkeit gerechnet. Mickey Madison ähnelt mehr einer Raubkatze, die gezähmt werden soll, als den klassischen Vorbildern, die hauptsächlich mit Worten kämpften. Eine Auseinandersetzung mit der russischen Mafia können wir uns ohne physische Gewalt nicht denken, und Baker spielt grandios mit unseren Vorstellungen, die er parodiert (so heiter habe ich die Stimmung in einer Pressevorführung selten erlebt).
Denn als Ivan fliehen kann, verfolgen ihn Igor , Garnick und der mittlerweile eingetroffene Toros sowie im Schlepptau Ani. Sie suchen und forschen durch Clubs, Bars und Schnellrestaurants, für die der Regisseur eine deutliche Vorliebe hegt. Jetzt besitzen die Szenen in Anis Nachtclub nichts Voyeurhaftes mehr. Wie überhaupt Baker durch Veränderungen gut zu kaschieren weiß, dass der Film mit Ausnahme des Schlussteils aus permanenten Wiederholungen besteht.
Am Ende entpuppt sich Igor als ein mitfühlendes Wesen, eine Rarität in diesem Film, und Regisseur Baker als eine romantische Seele. Eine Reminiszenz an die Zeiten, als er noch wenig Geld zur Verfügung hatte, scheint der originelle Ton des Nachspanns zu sein, der nur aus dem Geräusch von Scheibenwischern und einem laufenden Mercedes-Dieselmotor besteht.

Claus Wecker / Fotos: © Universal Pictures
>>> TRAILER
Anora
Komödie von Sean Baker, USA 2024,
139 Min.
mit Mikey Madison, Mark Eydelshteyn, Yura Borisov, Emily Weider, Karren Karagulian
Start: 31.10.2024

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