Es ist schon ungewöhnlich, dass ein Dokumentarfilm auf der Berlinale mit dem Goldenen Bären, also dem Hauptpreis, ausgezeichnet wird. Das ist allerdings schon weniger überraschend, wenn man erfährt, dass Nicolas Philibert der Regisseur des Films ist. Eben jener Nicolas Philibert, der 2002 das mehrfach ausgezeichnete Meisterstück mit dem Erich-Fromm-Titel »Sein und Haben« herausgebracht hat.
Damals zeigte Philibert den Alltag in einer sogenannten Zwergschule (darf man sie heutzutage noch so nennen?), in der verschiedene Jahrgänge in einem Klassenraum unterrichtet wurden. Ein unglaublich sympathischer Lehrer bewies allen Bildungsreformern, wie weit man es mit Akzeptanz und Empathie bringen kann. Der clevere Regisseur machte sich zunutze, dass ein toller Protagonist einen überragenden Film ausmachen kann.
»Auf der Adamant« handelt gewissermaßen von der Zwergschule ohne Superlehrer. Oder anders gesagt: Philibert hat hier seine ethischen Prinzipien von der Bedeutung des Einfühlungsvermögens und von dem Anspruch eines Menschen, in eine Gemeinschaft aufgenommen zu werden, nicht in einer Person kanalisiert, sondern auf eine Gruppe von psychisch gefährdeten Patienten und ihr Betreuerteam übertragen.
Dazu hat er sich als Schauplatz eine Tagesklinik für Erwachsene mit gravierenden psychischen Störungen ausgewählt. Sie befindet sich seit 2010 auf der Adamant, einer Art Holzschiff, das am rechten Seine-Ufer mitten in Paris ankert.
Die Institution gehört zu einem psychiatrischen Verbund, der – etwas abgekürzt dargestellt – dem Krankenhauskomplex Saint-Maurice angegliedert ist. Wir haben es also gerade nicht mit einer wilden, weitgehend unkontrollierten Einrichtung zu tun, die psychische Erkrankungen von vornherein leugnet.
Das Filmteam hat nun das Geschehen »an Bord« über sieben Monate beobachtet und viele Patienten in Einzelinterviews zu Wort kommen lassen. Künstlerische Aktivitäten überwiegen in überraschendem Ausmaß. Dass Frankreich ein kinobegeistertes Land ist, zeigt sich auch hier. Zum zehnjährigen Bestehen des Filmclubs wird ein kleines Festival geplant, und die hoffentlich unbeeinflusste Filmauswahl u.a. mit Truffauts »Amerikanischer Nacht« und Fellinis »8 ½« genügt hohen Ansprüchen. (Man mag sich gar nicht vorstellen, welche Filme hierzulande ausgewählt würden.)
Aber auch zu eigenen Aktivitäten, zum Schreiben, Musizieren und vor allem zum Malen werden die Menschen angeregt. Eine sympathische Frau zeigt den anderen ihr buntes Werk, das ihr selbst gut gefällt. Sie findet es sehr lebendig, die Gruppe sieht eine bunte Vagina. Die Frau sagt, sie wolle mit dem Bild ihrem Vater danken, der selbst Maler ist und sie für das Malen begeistert hat. Jetzt schaut sie etwas unsicher drein.
Es sind Momente wie dieser, die Philiberts Film anrührend machen. Sie finden sich auch in manchen Erzählungen, etwa wenn klar wird, dass der Betreffende (immer ein Mann) nicht von seinem Vater loskommt. Seinem Vater sei alles gelungen außer sein Sohn, verkündet dieser belustigt. Da bleibt einem das Lachen im Halse stecken.
Ein anderer Patient ist ganz begeistert von den Leuten auf der Adamant. »Sie haben richtige Stars hier, besser als Filmschauspieler«, sagt er. »Hier sitzen Schauspieler, die nicht merken, dass sie welche sind.« Sicherlich ist das positv gemeint.
Begeistert äußert sich auch ein Mann über die Behandlung im Hospital. Krankenhäuser seien keine Gefängnisse und die Psychiater und Pfleger seien keine Wärter, sondern um die Patienten besorgt. Ohne Medikamente würde er sich wahrscheinlich umbringen.
Das alles hat Philibert mit ruhiger Kamera sehr sorgfältig gefilmt. Er hat den Protagonisten Raum gelassen und sich von ihrem Selbstbewusstsein und der Poesie ihrer Gedanken beeindrucken lassen. Auch weil er Patienten und Pflegekräfte nicht deutlich unterscheidet, zeichnet er ein humanes Psychiatriebild, das er mit zwei weiteren Filmen vervollständigen will. In diesem ersten Teil ging es ihm um die Schilderung eines Paradieses der Kreativität, wo man es nicht vermutet. Und da schließt sich der Kreis zu »Sein und Haben«.