Mit den nunmehr über zwanzig Regiearbeiten des Südfranzosen Robert Guédiguian verhält es sich wie mit Einladungen von alten Freunden. In gewissen Abständen freut man sich auf ein Wiedersehen, auf Bekanntes und auf Neuigkeiten, die sich mittlerweile angesammelt haben. Doch die Voraussetzungen bleiben stets die gleichen: Es geht nach Marseille, in die Stadt oder ihre Umgebung, und es sind immer die gleichen Darsteller am Geschehen beteiligt, alte Bekannte gewissermaßen, aber in neuen Rollen.
Diesmal führt uns Guédiguian in die Altstadt Marseilles, deren fortschreitender Zerfall nicht genügend aufgehalten wird. So sind am 5. November 2018 zwei morsche Wohnhäuser in der Rue d’Aubagne in sich zusammengefallen und haben acht Menschen unter den Trümmern begraben.
Der Film nach einem Drehbuch von Guédiguian und Serge Valletti orientiert sich an einem tatsächlichen Ereignis und an den Bemühungen der Linken-Politikerin Michèle Rubirola, die, zur Bürgermeisterin gewählt, nach wenigen Monaten wieder aufgab.
Mit dem Einsturz und der riesigen Staubwolke, die er hinterlässt, beginnt der Film. Und nach diesem Anfang verknüpft er eine Familiengeschichte mit den politischen Folgen einer vermeidbaren Katastrophe sowie den lautstarken Protesten der Bürger, die vor allem die nachlässige städtische Verwaltung verantwortlich machen.
Es steht nämlich eine Kommunalwahl an, und die beliebte Krankenschwester Rosa versucht, die linken Parteien zu einer gemeinsamen Kandidatur zu vereinen, was besonders in Frankreich ein schwieriges Unterfangen ist. Rosa wird von Guédiguians Ehefrau Ariane Ascarde gespielt, die traditionell im Zentrum der »Filmfamilie« des Regisseurs steht.
Die im Krankenhaus kurz vor dem Ruhestand stehende Pflegerin erzählt, ihr Vater habe ihren Vornamen wegen seiner Rosa-Luxemburg-Verehrung ausgewählt. Damit legte er seiner Tochter ein hohes Ziel in die Wiege.
Rosas Familienleben ist nicht weniger spannend als die politische Entwicklung in Marseille. Ihr Sohn Sarkis (Robinson Stévenin) hat sich gerade in die bezaubernde Schauspielerin Alice (Lola Naymark) verliebt, die sich in einer Kirche um die obdachlos gewordenen Überlebenden kümmert.
Bei einem Konzert, in dem Alice einen Chor der Altstadtbewohner dirigiert, lernen sich Rosa und Alices Vater Henri, verkörpert von Guédiguians Stammschauspieler Jean-Pierre Darroussin, kennen, ohne von der Liaison ihrer Kinder zu wissen. Auch zwischen der Krankenschwester und dem ehemaligen Buchhändler, der seinen Laden den Angestellten übergeben hat, bahnt sich eine Liebesbeziehung an. Und bei beiden Paaren kommt es zu ernsten Komplikationen.
Interessant ist nun auch an diesem Guédiguian-Werk, dass neben der Sympathie für die politische Linke, die für eine neu Stadtregierung kämpft, ein konservatives Familienbild steht. Rosa versucht sowohl mithilfe ihres kommunistischen Bruders Tonio (Gérard Meylan) die Grünen von deren Kapitalismusakzeptanz abzubringen, kämpft aber immer auch gegen ihre eigene Verzweiflung an und zieht am Ende den privaten Neuanfang dem politischen Auftrag vor.
Über allem steht eben der Zusammenhalt in der Familie mit den armenischen Wurzeln. Ein Zusammenhalt, der über Generationen weitergetragen werden muss, leiden die christlichen Armenier in ihrer Heimat doch unter ihren aggressiven muslimischen Nachbarn. Ein Thema des Films ist somit auch der Mythos von der Gründung Marseilles durch Armenier. Zusammen mit der Verehrung Homers, dem die Bürger ein Denkmal errichtet haben, lebt deren Zuversicht weiter in einem Marseille, das Guédiguian trotz allem noch in einem ziemlich intakten Zustand zeigt.