Musicals galten lange Zeit als Sache des von ernstzunehmenden Gehalten ungetrübten Entertainments. Dass es einmal eine Musicaltradition mit wirklichkeitsbezogenen Stoffen gegeben hat – ein prominentes Beispiel ist Leonard Bernsteins nach wie vor vielgespielter Genreklassiker »West Side Story« (1957) – ist angesichts der Jahrzehnte einer Dominanz des Lloyd-Webberism ein wenig in den Hintergrund getreten. In jüngerer Zeit erst erleben speziell im Londoner Westend, neben dem Broadway der wichtigste Ort für die Gattung, Musicals mit gesellschaftlich relevanten Themen und einem starken dramatischen Konflikt einen Aufwind.
Um ein wenig Modernität im Sinne des Anschlusses an die derzeitigen Diskurse bemühen sich auch die Bad Vilbeler Burgfestspiele. Der Spielzeitillustrierten zufolge schätzt Regisseurin Milena Paulovics an der Musicalfassung von Sydney Pollacks Filmkomödie »Tootsie« (1982, mit Dustin Hoffmann in der Hauptrolle), den »zugleich spielerischen wie undogmatischen Umgang mit Genderdebatten«. Tatsächlich ist die Figur des Regisseurs im Stück gegenüber der Hauptdarstellerin zudringlich, ein MeToo-Fall, und es wird in einer feministischen Weise Front gegen ihn gemacht. Zugleich wirkt die von Markus Maria Düllmann gespielte lachhaft cholerische Machttype – bei Widerspruch will er sein Gegenüber feuern und meint, er werde dafür sorgen, dass der oder die Betreffende nie wieder auf einer Bühne stehen wird – derart abgehalftert und wie von gestern, dass man geneigt ist abzuwinken, weil selbst die karikierende Darstellung schon nach Gestrigkeit müffelt.
Der Gender-Pay-Gap spielt im Übrigen gleichfalls eine Rolle im gegenüber der Vorlage modernisierten Musical von David Yazbek (Musik und Gesangstexte) und Robert Horn (Buch), das ein Jahr nach seiner Premiere (2018 in Chicago) als »offizielle Uraufführung« am Broadway herauskam und 2022 am Münchner Gärtnerplatztheater zum ersten Mal in Europa gespielt worden ist. Doch werden diese Dinge nicht mehr als bloß angetippt, das bleibt alles an der Oberfläche. In erster Linie geht es um Unterhaltung, um den Bühnenjux über den bislang erfolglosen, erst in Frauenkleidern reüssierenden Schauspieler und die Liebeswirren, die sich ergeben, weil er sich in eine Frau verliebt, die Bühnenpartnerin in einer hanebüchenen zeitgenössischen Fortsetzung von Shakespeares »Romeo und Julia«. Die Regie und der famose Hauptdarsteller Robert David Marx zeichnen Michael Dorothy – oder Dorothy Michaels – als Mann in Frauenkleidern in einer so dankenswerten wie heute (hoffentlich) selbstverständlichen Art frei vom Tuntenklischee.
Im Gesamtbild bleibt der Abend konventionell, mit der sehr klassischen Lichter-des-Broadway-Bühne von Pascale Arndtz fängt es schon an. Ein aus dem Bewährten geschöpftes Amüsement ist gewährleistet, die Sache lebt von dem manierlich-souveränen Ensemble, vornean neben den schon Erwähnten Veronika Hörmann als Julia-Darstellerin Julie Nichols und Samuel Franco als Michaels bester Freund und Mitbewohner.
Die deutsche Übertragung von Roman Hinze wartet mit einigen hübsch originellen Reimen auf. Die Musik, solide das von Jochen Kilian geleitete Instrumentalisten-Ensemble, ist Meterware, eingängige Hitnummern sucht man vergebens. Die oberste, sprich ökonomische Macht liegt im Übrigen (wie schon im Film) in den Händen einer taffen Frau, der von Annette Lubosch aufgeklärt businessmäßig gezeichneten Theaterproduzentin. Da kann auch der Regiekotzbrocken bloß kuschen.
Man könnte noch erwähnen, daß das alles mit CHARLEY’S AUNT anfing – im Jahre 1892 – und daß von Oliver Hardy über Heinz Rühmann bis Erik Ode jeder, der Rang und Namen hatte, da mitgespielt hat. Mit größtem Erfolg.