Diesmal: True Crime in Frankfurt
Geschichtsklitterung bei der Rundschau
Ein Buch über die »Frankfurter Rundschau«, die am 1. August 80. Geburtstag feiert. Aber die Geschichtsschreibung des ehemaligen FR-Redakteurs Claus-Jürgen Göpfert radiert eine wichtige Person der Anfangsjahre einfach aus – einen Widerstandskämpfer, Publizisten und Verleger untadeliger Reputation. Das hat bei der FR schon Jahrzehnte Methode. Warum wird der Karl Anders, Verlagsleiter und Geschäftsführer der Frankfurter Rundschau 1953 bis 1957, von der eigenen Zeitung systematisch totgeschwiegen?

Samstag, 31. Mai 2025, 12–15 Uhr, Frankfurt, Katholische Akademie, Haus am Dom. Gut besetzter Saal, erwartungsvolle Stimmung. Auf dem Podium drei Polstersessel für Interviews. Der ehemalige FR-Redakteur Claus-Jürgen Göpfert präsentiert stolz sein Buch »Zeitung im Kampf. 80 Jahre Frankfurter Rundschau oder: Niedergang des linksliberalen Journalismus?« (VSA Verlag, Hamburg). »Es ist an der Zeit. Es ist an der Zeit, die Geschichte der Frankfurter Rundschau zu erzählen. Denn am 1. August 2025 feiert die Zeitung ihren 80. Geburtstag«, hebt der von ihm vorgetragene Prolog des Buches an. »Noch nie zuvor ist die Geschichte der Frankfurter Rundschau so ausführlich zusammenhängend erzählt worden, dieses Buch betritt Neuland«, tönt die Fanfare.
Es folgen zwei Stunden Zeitzeugen, live, weitere Textauszüge und viel Weihrauch. Geschenkt. Natürlich darf eine Zeitung wie die »Frankfurter Rundschau« auf sich stolz sein, auch wenn sie von einst 1.400 Beschäftigten auf unter 100 geschrumpft ist. Aber es geht hier vor allem um Geschichtsschreibung. Und da erlebe ich – mit Gänsehautgefühl am eigenen Leib – einen Orwell-Moment. Artikuliere das auch, als ich nach über zwei Stunden als erste Wortmeldung ans Mikrofon kann.
»Freiheit bedeutet die Freiheit, zu sagen, dass zwei und zwei vier ist. Gilt dies, ergibt sich alles Übrige von selbst«, weiß ich aus Orwells »1984«. Hier aber, beim Wahrheitsfest der Rundschau erlebe ich, wie aus zwei und zwei eine ungerade Zahl wird. Erlebe ich, was in Orwells Ozeanien galt: »Was die Partei für Wahrheit hält, ist die Wahrheit.« Und: »Unwissenheit ist Stärke.«
Ich hatte mir das Buch vorab besorgt, sogar zweimal gelesen. Es fehlt darin ein bestimmter Name – zum wiederholten Male aus der Geschichte der Rundschau gelöscht und getilgt wie Trotzki aus dem berühmt-berüchtigten Lenin-Foto von 1920. Jetzt mit dem Buch zum 80. Jubiläum wird das auch bei der FR endgültig ein Muster. Ein Delikt. »Damnatio memoriae« (lateinisch für «Verdammung des Andenkens«) nennt man seit den Römern die Tilgung einer Person durch die Nachwelt. Es ist die symbolische Negation eines Namens und die Klitterung der Geschichte, »ein Verfahren, das autoritäre und totalitäre Regime auf ihre Gegner anwenden«, so Wikipedia. Ich bin fassungslos, es live mitzuerleben, dass solche eine Geschichtsfälschung der Gründungslegende der linksliberalen Frankfurter Rundschau eingeschrieben ist – und bleibt. Und weiter zementiert wird. «Wenn man der Lüge nicht entgegentritt, verwandelt sie sich in Wahrheit», so George Orwell einst.
»Der, dessen Name nicht genannt werden darf« (wie Lord Voldemort bei Harry Potter) heißt Karl Anders. Er kam als ausgewiesener Publizistik-Profi im Zuge der bis heute in der FR-Geschichte verschwiegenen SPD-Kredite für die Geschäftserweiterung und den Neubaus des Rundschau-Hauses Ecke Große Eschenheimer/Stiftstraße an Bord, war von 1953 bis 1957 Verlagsleiter und Geschäftsführer der »Frankfurter Rundschau«, bezog bis zum Lebensende eine FR-Pension, bekam eine Villa in Dreieich überschrieben. Denn ohne ihn hätte diese Zeitung das Jahr 1960 nicht erlebt. Karl Anders regelte 1954 das finanzielle und organisatorische Chaos nach dem Tod des Mitherausgebers Arno Rudert. Der war 1949 zusammen mit Karl Gerold per Generallizenz Nr. 3 der US-Militärregierung zum Mit-Eigentümer der Zeitung geworden, die Beiden hatten sich auch die Chefredaktion geteilt. Jetzt wurde Karl Gerold zum alleinigen Chefredakteur und Herausgeber, blieb das bis zu seinem Tod 1973.
Aber, wie es so schön bei Göpfert auf Seite 49 unten heißt: Gerold hatte »vom Geschäft wenig Ahnung«. Außerdem, aber das verschweigt das Buch, hatte er ein Frauen- und Alkoholproblem, war jähzornig und cholerisch. Zur Rundschau-Folklore gehören Geschichten wie die: Junger Mann geht im Verlagsgebäude einen Gang lang, kommt ihm ein Älterer entgegen, brüllt ihn an: »Sie haben mich nicht gegrüßt! Sie sind entlassen!« Darauf der Jüngere: »Aber ich kenne Sie doch gar nicht. Sie können mich nicht entlassen, ich bin nur ein Besucher.« Oder: Wenn man im Paternoster im Rundschau-Haus Aufzug fuhr, konnte es sein, dass man oben entlassen und unten wieder eingestellt war.
Göpferts Buch könnte/müsste auf Seite 49 unten eigentlich mit Karl Anders weitergehen. Der nämlich brachte damals den Laden in Ordnung. Er war dank seiner Verbindungen ein Sanierer erster Güte. Er besorgte das Geld für »die Heidelberger« Druckmaschinen, die dann der FR das lukrative Vierfarb-Geschäft ermöglichten. Er schloss mit Josef Neckermann den Vertrag für den Druck der Versandhaus-Kataloge, legte den Grundstein für die überaus erfolgreiche Drucksparte des Verlags, die dem Blatt über Jahrzehnte hinweg redaktionelle Freiheit ermöglichte – und Anfang der 1960er dann den Bau des Druckzentrums Neu-Isenburg, zeitweise die größte und modernste europäische Zeitungsdruckerei. All dies bedeutete weiteren redaktionellen Freiraum.
Chefredakteur Karl Gerold war 1952 im Streit aus der SPD ausgetreten, hatte sich mit »der Baracke« völlig überworfen. Man kann das als Ausdruck journalistischer Unabhängigkeit feiern, wie Göpfert. Als linke, großkapital- und aufrüstungskritische Zeitung aber gab es im Adenauer-Deutschland nicht viele freundlich gesonnene Kreditinstitute. (Man muss dazu wissen, dass die für Nazi-Unrecht restituierte SPD wie auch die Gewerkschaften nach dem Krieg finanzkräftige Medienbeteiligungen unterhielten.) Und anders als Gerold hatte der, dessen Name nicht genannt werden darf, beste Beziehungen zur SPD und zur Bank für Gemeinwirtschaft, der Bank der Gewerkschaften. Er war mit wichtigen Akteuren gemeinsam im Widerstand und im Exil gewesen, besaß Reputation – als Genosse, als politischer Mensch, als Autor, als Publizist und als Verleger mit Erfahrung.
Karl N. Anders, als der er 1954–1957 gesperrt gedruckt und groß im Rundschau-Impressum stand, hieß eigentlich einst Kurt Wilhelm Naumann, stammte aus Köpenick in Berlin, ging am Tag der Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler als Agitprop-Leiter der KPD in den Untergrund, organisierte illegale Druckereien und den Druck von Flugblättern. Er erlebte die »Köpenicker Blutwoche« im Juni 1933, wechselte seine Identität »öfter als meine Hemden«, wurde buchstäblich ein Anderer. Musste das Land verlassen, landete via Slowakei, Polen und Baltikum in England, schloss sich Waldemar von Knoeringen und anderen Emigranten in der sozialistischen Widerstandsgruppe »Neu beginnen!« an – ihre Analyse: die Nazis würden zwölf Jahre an der Macht bleiben –, machte Arbeitersendungen für den von den Briten finanzierten Feindsender »Europäische Revolution«, bis der 1943 eingestellt wurde, arbeitete dann für das deutsche Programm der BBC, knüpfte viele Kontakte. Etwa zu Eric Ambler, Victor Gollancz, den Brüdern Greene und natürlich vielen Emigranten. Mit Grahams Bruder Hugh und Allan Bullock fuhr er kurz nach der Kapitulation des Nazi-Reiches durch Deutschland, war einer der Allerersten, die zurückkehrten. Für das deutsche Programm der BBC berichtete er vom 20. November 1945 bis zum 1. Oktober 1946 vom Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher, war neben Hemingway, Martha Gellhorn, John Steinbeck, Erich Kästner, John Dos Passos, Ilja Ehrenburg und Robert Jungk im Fürther »Bleistiftschloss« der Familie Faber-Castell einquartiert.
Für ihn, der immer schon ein Leser gewesen war, war klar, dass ein neues Deutschland neue Bücher brauchte – und eine demokratische Literatur. Zwingend mit dabei: Kriminalromane! Er brachte Raymond Chandler, Dashiell Hammett und Eric Ambler als Erster auf Deutsch heraus. Dies in seinem 1948 zusammen mit den Nazi-Verfolgten Rudolf Zitzmann und Willi Geusendam gegründeten Nest Verlag. Der war erfolgreich, bot ein bemerkenswertes politisches und re-educatives Programm, war ganz der Völkerverständigung gewidmet, der aktiven Vergangenheitsbewältigung und neuer sozialistischer Politik. Kurzum: dem Versuch, zu trauern, und gleichzeitig Neues aufzubauen. Als siebtes Buch erschien 1948 ein in der politischen Analyse bis heute zeitloses Buch: »Im Nürnberger Irrgarten«. Karl Anders fokussierte darin seine Berichterstattung von den Kriegsverbrecher-Prozessen auf zwölf symbolische Nazigrößen, versuchte das Innenleben und die Mechanismen des Faschismus differenziert zu ergründen. Er ging mit den entsprechenden Kapiteln in die Gefängniszellen zu Speer, Papen, Schacht und dem Goebbels-Stellvertreter Fritzsche, brachte diese Gespräche über Schuld und Gewissen in die Texte ein. Auch das Problem der »Kollektivschuld« (die er ebenso wie sein britischer Verlegerfreund Victor Gollancz verneinte), registrierte der politisch wache Journalist schon im Gerichtssaal: »Wenn man mit der Schuld nicht fertig wird, baut man die Zukunft Deutschlands auf ein Fundament der Lüge, der Selbstzufriedenheit, auf einen moralischen Morast, und das ist schlimmer, als sie auf Sand zu bauen … Wird es zur neuen Schuld des deutschen Volkes werden, aus der eigenen Vergangenheit nichts gelernt zu haben?«
Nie wieder hat jemand je im Impressum der »Frankfurter Rundschau« so groß neben Karl Gerold gestanden, dessen Jünger sie (fast) alle bei der Rundschau sind – die Chefredakteure sozusagen automatisch mit im Vorstand der Karl-Gerold-Stiftung. Die ist das Wahrheitsministerium dieser Zeitung. In ihren Veröffentlichungen kam der Name Karl Anders noch nie vor. Wen es dort nicht gibt, den hat es nie gegeben bei der Zeitung. Ganze Redakteurs-Generationen beten das nun schon nach.
»Karl Anders, der ist mir bei uns wirklich nie begegnet«, sagte mir im Haus am Dom Wolf Gunter Brügmann, qua etlicher Sonderpublikationen zu den Jubiläumsdaten der FR so etwas wie der Haushistoriker. Und dann, zur Tochter des Ausgelöschten, direkt neben mir: »Sie glauben immer noch an die Omertà?« Dr. Ann Anders hatte sich zuletzt 2020/21 anlässlich der Broschüre »Haltung zählt – Anspruch und Geschichte der Frankfurter Rundschau« zum 75. Geburtstag der Zeitung bei einem größeren Adressatenkreis von FR-Leuten über die Auslöschung ihres Vaters in der Zeitungs-Historie beschwert. Seitdem aber geschah nichts. Gar nichts.
Auch dem Buchautor Claus-Jürgen Göpfert ist diese Mail-Aktion bekannt, als ehemaliger Lokalreporter kennt er die Karl-Anders-Tochter zudem aus ihrer Zeit als kulturpolitische Sprecherin und Stadtverordnete der Grünen im Römer. Für sein Buch interviewte er 30 Zeitzeugen. Mit Ann Anders hingegen sprach er nie. Fazit: Da will jemand etwas gar nicht wissen. Und auch wenn man heute bei der Rundschau schon gar nicht mehr weiß, warum man etwas nicht wissen oder erwähnen soll, hält man sich im »Commentariat« immer noch daran.
Recherche gehört zum journalistischen Handwerk sollte man denken. Von Karl Anders erfährt man im Internet auf Anhieb gleich bei mehreren Stellen. Die Wikipedia-Seite der »Frankfurt Rundschau« hingegen erwähnt den Namen Karl Anders NICHT. Auch der Wikipedia-Eintrag zum Säulenheiligen Karl Gerold verschweigt ihn. Auf der Wikipedia-Seite »German resistance members« finden wir den Namen Gerold nicht, wohl aber den von Karl Anders. Die Rundschau verschweigt in ihrer Geschichte einen aktiven Widerstandskämpfer, feiert hingegen in den Verlagslegenden mit jedem kleinen Indiz »ihren« Karl Gerold, der die Nazi-Zeit in der neutralen Schweiz überstand.
Karl Anders war es auch, der jede Menge interessanter Autoren zur Zeitung brachte, nicht nur Feuilletonchef Erich Lissner, darunter (der Platz dafür ist hier zu kurz) viele Exilschriftsteller, auf die auch Göpfert in seinem Buch stolz ist. Schon pervers, dass auch hier im Kapitel »Auf der Seite der Verdrängten« (Seite 56 f.) der Name Anders fehlt. Auch der Friedenspreisträger des Jahres 1960, Victor Gollancz, geht auf dessen Konto, seine Völkerverständigungs-Bücher brachte er auf Deutsch heraus. Darunter, 1960 wieder aufgelegt, »Stimme aus dem Chaos« im inzwischen zur Rundschau gehörenden Nest-Verlag. Dies alles bei Göpfert: Fehlanzeige.
Ich muss nun offenlegen, dass ich Karl Anders gekannt habe. Gut sogar, und immer besser, da ich ihn über ein Jahrzehnt zu seiner Vergangenheit befragt und seine Lebensgeschichte Stück für Stück – aber keineswegs vollständig – zusammengesetzt habe. Ein erstes Porträt erschien 1989 in einem Jahrbuch, im Jahr 2000 dann ein weiteres im »Börsenblatt des deutschen Buchhandels« und später dann eines online (wenn Sie culturmag + karl + anders eingeben). Die Rundschau kam in seinen Erzählungen immer selbstverständlich vor, mit durchaus warmem Affekt. Die Freundschaft mit Werner Holzer, 1973–1991 Chefredakteur und zu Anders Zeiten Chef vom Dienst, bestand lebenslang; er war oft im Hause Anders zu Besuch. »Na ja, Gerold war halt in der Schweiz«, meinte Karl Anders bei mir, wenn es an die Widerstandsgeschichte ging.
Sein Nest-Verlag wurde von der FR 1955 zu 50 Prozent, später dann ganz übernommen. Die Rundschau-Zeit endete mit einem längeren Abfindungsprozess, Gerolds Jähzorn lässt grüßen. Karl Anders’ Rechtsanwalt dabei (und Freund seit der Internierung auf der Isle of Man) war Henry Ormond, der bedeutendste Nebenkläger im Frankfurter Auschwitz-Prozess. Während seiner Freistellung und danach sanierte Karl Anders eine ganze Handvoll anderer Zeitungen (Lübecker Morgen, Coburger Tagblatt, Hannoversche Allgemeine, Stuttgarter Nachrichten), an denen die SPD mit »der Konz«, der Konzentrations GmbH beteiligt war. Deren Chef Fritz Heine, sein Kollege Herbert Allerdt, Oskar George von der BfG, wie auch SPD-Schatzmeister Alfred Nau, Büchergilde-Verleger Helmut Dressler oder Carlo Schmid, einer der Väter des Grundgesetzes, gehörten zu seinen engsten Freunden. 1960/61 wurde Karl Anders zentraler Wahlkampfleiter für Willy Brandt (die SPD gewann 4,4 Prozent hinzu), er fungierte von 1971–73 als Mitglied der SPD Grundwerte-Kommission und gehörte später dem Seniorenrat der SPD an. Von 1949–72 war er Vorstandsmitglied des Verbandes sozialistischer Verleger, Buchhändler und Bibliothekare. Er gilt als eine der verdienstvollen Verleger-Persönlichkeiten aus den Gründerjahren der Bundesrepublik. – Und da sagt Buchautor Göpfert mir im Haus am Dom, zu solch einem Buch gehöre einfach eine zu große Anzahl von Personen: »Da kann schon mal jemand hinunterfallen.«
Das sehe ich Anders. Die »Frankfurter Rundschau« braucht endlich eine seriöse Geschichtsschreibung. (Mehr dazu bei www.culturmag.de)