Es ist ja klar, dass man von der wunderbaren fahrenden Truppe der Dramatischen Bühne keine hochkomplexe und hochkomplizierte Auseinandersetzung mit Kafkas nie zu Ende geschriebenem »Process« erwarten darf. Dafür lieber: einen Erkenntnisprozess.
Kafka selbst hatte an dem Text mit Unterbrechungen gearbeitet, zuerst den Beginn und das Ende formuliert, um sich dann in der Abfolge der Szenen/Kapitel Zeit für deren Ausgestaltung zu lassen, und es ist nicht überliefert, ob die nun übliche Reihung die tatsächlich beabsichtigte ist.
Die Leserschaft vollzieht die multiplen Bewegungen des inhaftierten Franz K. mit. Franz K. wird in Haft genommen, aber nicht inhaftiert, er wird von dem verschiedensten in unüberblickbaren und nicht einsehbaren Hierarchien gestaffeltem Personal befragt, mit Formularanfragen überhäuft, unter Unzuständigkeitserklärungen begraben, man irrt mit ihm durch Gerichtskatakomben, steigt in Dachstuben hinauf. Gänge verästeln sich zum Labyrinth, Wachstuben entpuppen sich als Wohnzimmer, Flure als Durchgänge. Eine klaustrophobe Architektur, die buchstäblich in die Irre führt. Auch die Menschen, die Franz K. begegnen, sind nie das, was sie zu sein scheinen, es geht immer noch eine Deutung, eine Drehung weiter. Und sie fliegen davon, verflüchtigen sich. Nie ist je etwas greifbar, aber einer strengen strafenden Ordnung unterstellt.
Dieses schier unglaubliche Geflecht auf die Bühne zu bringen – alle Achtung. Bei der Dramatischen Bühne ist es aber keine Bühne, sondern der Grüneburgpark. Man sitzt nicht bequem und schaut zu, sondern man läuft (irrt) mit Kafka auf verschiedenen Stationen durch den Park. Das ist schon einmal die äußere Herausforderung: Wie inszeniert man Ausweglosigkeit in einer weitläufigen Anlage? Man kann, wie man sehen wird.
Vom Text ist das stützende Fragment geblieben: die Kernfrage nach Schuld oder Unschuld. Von einem im blütenweißen Frack gekleideten Kafka der zugleich Erzähler, Kommentator und Franz K. in einer Person ist (Julian Koenig), werden wir als Zuschauer*innen sogleich aufgeklärt, dass wir nun als Geschworene diesem Prozess beiwohnen und am Schluss ein Urteil fällen müssen. Die Absurdität der Anklage überführt das Ensemble zugleich in einen Dialog mit dem Publikum: wie Franz K. sollen wir erklären, ob wir uns für schuldig oder unschuldig befinden, um anschließend von einer Behörde, die uns eine Birkenstockdurchseuchung attestiert, abgekanzelt zu werden. Es ist witzig, und es ist tieftraurig, denn egal, was man denkt, fühlt oder trägt, die Behörde in bodenlangen schwarzgrundigen Kleidern und gesteppten Fracks (Kostüme Simone Greiß, Thorsten Morawietz) erklärt einen für schuldig. Es warte die Abschiebehaft, Asylantrag abgelehnt. So, das sitzt schon mal.
Den puren Kafka-Text darf man hier freilich nicht erwarten, wie stets fabriziert die Dramatische Bühne eine Moritat daraus. Sie ist, wie alle Moritaten, erzählerisch und hintersinnig. Der Arrestbereich ist das gesamte Universum. Die Himmelsgewölbe sind untertunnelt mit einem Gewebe aus Kanzleistuben, sind Katakomben des Irrsinns. Das Publikum läuft von Station zu Station, buchstäblich vom Baum zu Baum, erlebt Gerichtsverhandlungen – diesmal haben sich die Akteure zusätzlich Pestmasken aufgesetzt – und Auftritte von Advokaten (Simone Greiß), die dem staunenden Franz K. bezeugen, dass sein Prozess sowieso mit einem Schuldspruch enden wird, obwohl er überhaupt nicht weiß, wofür er überhaupt angeklagt wird, er kann es auch nicht in Erfahrung bringen. Man rät ihm zu Verschleppungstechniken und einem Konvolut an Eingaben, die zur Verlangsamung des Prozesses beitragen, dann aber eine Wiederaufnahme folgen lassen würden. Dies sei unausweichlich. Stufe für Stufe gerät er in immer verwirrendere Abläufe, und wir, das Publikum, werden aufgefordert, uns zu entscheiden.
Ist er schuldig, ist er unschuldig? Soll er sich selbst verteidigen oder es einem Advokaten überlassen? »Sie haben die Wahl«, ruft uns der Erzähler zu, bei jedem weiteren Schritt haben wir die Wahl, zu entscheiden. Franz K. verdoppelt sich, wird von zwei Darstellern (Thorsten Morawietz) gespielt, die beide denselben Text sprechen und langsam dämmert es, auf welch stahlbetonhartes Fundament die Dramatische Bühne ihren Parcours durch Kafkas Prozess gebaut hat: wir haben zwar die Wahl, aber das ist völlig unerheblich. Wir können wählen so viel wir wollen, der Ausgang der Geschichte ist bereits festgelegt. Das lässt dann doch auch an Putins Russland denken oder an das Venezuela von Maduro oder an das Nicaragua von Ortega oder, oder, oder …
Und als die Zuschauer*innen sich schlussendlich als Tribunal zum finalen Bild aufbauen, passiert was? Man kann es sich denken.
Susanne Asal / Foto: © Dramatische Bühne
Die Dramatische Bühne veranstaltet auch im Juli und August noch das Freilichtfestival im Grüneburgpark. Dort werden unter anderem »Romeo und Julia«, »Alice im Wunderland«, »Ein Sommernachtstraum«, »Moulin Rouge«, »Faust« und »König Lear« gezeigt.
»Kafkas Prozess« wird wieder in der nächsten Spielzeit aufgeführt.
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